Donnerstag, 31. Januar 2013

nachzuLESEN










Hier noch einmal die Gelegenheit, meinen Part des gestrigen Literaturabends (Düsseldorfer Künstlerinnen im Heine-Institut Düsseldorf) nachzulesen.

"Voyage" – unter diesem Thema der begleitenden Ausstellung im Treppenhaus wählten wir unsere Texte aus. 


Eine große Landstraß' ist unsere Erd,
wir Menschen sind Passagiere.
Heinrich Heine
 
Dieses Fragment aus dem Buch der Lieder lag mir besonders am Herzen. 
Verschiedene Aspekte des Reisens




(Aufbruch/ Reisen in den Tag:)


Auf dem Weg

Morgenmüde die Wortschatztruhe aufbrechen –
mit meinem Buchstabenbesteck
ein paar Happen kapern,
in die kunstlederne Handtasche damit
und saubergedacht, gedankengeduscht
zum Regionalexpress hasten.
Mancher liest diese Zeitung (laut),
die ständig Ohrfeigen verteilt,
ich lese Trauben aus meiner Tupperdose –
und twittere die Wortkerne in die Gegend,
bekomme orthografisch nicht-korrekte Antwort,
egal, schwerfällig steige ich aus,
wandere durch meine stummen Gassen
im Laternenlichtrest
und sammle abgeworfene Silben.

Das Hellwerden genieße ich immer so.
Wenn die Sonne in Worte sticht und neue gebiert. 



(eine Reise durchs Atelier:)


Das Atelier ist eine Wunderkammer

Mit Farbe im Haar
aus dem Herzkämmerchen
an laute Orte reisen:
Holothurien! Holothurien!
Lederfischköpfe krepeln,
lachende kauende Münder
wollen entbeinte Worte
ins All werfen, landen bei mir:
Lachs, zitroniger Lachs! Zinnoberrotes
Meeresgewürm, lebend, gedörrt
tellerwarm
Lieder der Tintenschnecken
zum Schifferklavier.
Alles im Farbensud:
ein Aquarell –

So viele Dinge,
für die es keine Namen gibt.



(Reisen im Zug:)


Im Zug

Diese Nähe!
Seltsam, die fremden
Geräusche und Düfte
wenn meine Augen
ins Leere fallen und
fern der Tag vorbeizieht –

wenn ein Wort laut ist
das nächste sich samten
in kurzen Traum schleicht


 
Schreiben (im Zug)

Wenn ich die Zeit fühle
jeder Moment
eine andere Farbe trägt
Sprechgesang
fahrende Räume flutet
an der Heimat vorbei
ich den Ort verliere
will ich Worte
in Stunden flechten
neue fremde Gerüche
Geräusche
Sätze



(Städte:)


Diese Stadt trug früher
ein buntes Kleid.
Da kamen die Leute und lachten,
auch wenn es November war,
und es gab Schokolade.

Jetzt liegt sie am grauen Fluss
und sagt nichts.
Wer da noch wohnt,
braucht Winterschuhe
und neue Zähne.



die Stadt mit dem grauen Schatten

Es war einmal eine Stadt
in der man sich immer verlief
weil überall ein neuer Berg wuchs

als ich das erste Mal dort war
prasselte Regen auf die Straße
und eine Frau wollte mit mir beten

ich war noch ein Kind
und der „Herr Jesus“ steht für mich
bis heute im Wortregen

zehn Jahre später saß ich allein
im grauen Schatten der Stadt
die mich nicht wollte

und mir das jeden Tag sagte
immerzu einen Berg vor die Sonne schob

bis sie mich endgültig auswarf
Brandbeschleuniger spuckte

und mich wissen ließ
als ich wegrannte:

Den grauen Schatten verlierst du nie


(Reise durchs Leben:) 

Reise

In die Fremde
war ich geworfen
als ich Wassermensch
atmen musste

Anfangs war ich nie einsam
und wusste es nicht
Rückwärts träumte ich
mich viel später

Suchte die Liebe
deren Wörter wollte ich
singen und essen
und malen


Ich weiß: Noch einmal
muss ich ins Fremde
verlerne zu sprechen
zu lieben, zu atmen

Das Wasser wird Staub



(Reise in Erinnerungen:) 


haushaltsauflösung

noch einmal
in diesem dunklen berg
letzte Schätze aufspüren
zwischen den sedimenten
mit der spitzhacke
kindheitsjahre zerstören
abraum
in säcken wegschleppen
die schlüssel abgeben
adieu




Abschied

Wir rannten los, spielten
Verstecken, sprangen hinaus
in die Welt und
kamen wieder

der Staub klebte uns
im Gesicht, wir lachten
zur alten silbrigen
Weide hinüber

stellten den Abendbrottisch
in ihre Schattenruhe
wuschen uns den Tag von den Füßen
und holten Wein

wussten, bald sind wir
an neuen Orten, allein


Ruhrgebietskindheit

nein, nicht alles war schwarz
der Mond nicht
und nicht das Regenbogenbenzin
auf den Pfützen

blutrot am Abend
der Hochofenabstich

hell klang es vormittags
wenn Männer mit Schippen
Kohleberge ins Kellerloch schoben
Frauen im Kittel Eingänge fegten
und später weißes Püree
zum Kasslerstück kochten

oder rußige Kriegsruinen
verschwanden und frische Ziegel darüber
nach Neuanfang rochen
Sonnenblumen schneller wuchsen
als Staub
und ich von der roten Lederbux träumte
(viel zu teuer) –

dann aus schwarzen Mündern Herzen strömten
und tschüsken sagten –
so, als führe ich
unter Tage
und käme vielleicht
nicht zurück



ruhrgebiet, 60er Jahre

und der graue fluss
der sich nicht schlängeln durfte
floss immer gleich
durch die jahre
und beklagte sich nicht

wenn er wieder
die langeweile der welt
schlucken musste

von osten nach westen schleppte
sein leben lang



("angekommen":)


nach einer Installation von Helga Weidenmüller


Neues Leben


Die Schuhe schnüren sich leicht
ich könnte tanzen mit ihnen
über die weißen Länder
ihre Quellen und Meere
zu gezähmten Feuern
zum ewigen Licht
dahin, wo Mutterworte
süß schmecken
mir ins Boot helfen
wenn ich müde bin


heimat

ja
vielleicht bleibe ich
und lerne deine sprache

denn du
überredest nicht
redest nicht über mich
hinweg

dein wort verspricht
sich nicht

es nimmt mich mit
dein wort

an einen ort
dem meine seele
einen namen geben wird




© Marlies Blauth









Keine Kommentare: