Dienstag, 1. Juli 2014

Irgendwann dienstags – [Prosatext]












Irgendwann dienstags


„Hallo, Schönheitskönigin!“ – Elmar tritt aus seinem Tankstellenladen, während Sina, die süße Sina Grünblatt, elegant vorfährt und mit Schwung von ihrem Fahrrad steigt. Einen alten Schal hat sie locker umgeschlungen, und ihre Mütze besteht aus hundert wollenen Blümchen mit ein paar Mottenlöchern dazwischen. Sinas schwarze Augen sind umrötet und schmal vom Wind, durchgefroren sieht sie aus.
„Willste nicht doch mal 'nen kleinen Gebrauchtwagen, Sina?“ „Ach, Elmar, du weißt ja … – Das nächste Mal komm ich mit einem Porsche!“ lacht sie sich ihre Stirnfalten glatt. „Meine Mama zieht nochmal ihren weißen Pelz an, und wir holen dich ab – oho – zum Dinieren“. Elmar lacht. Man sieht ein paar schwarze Zahnlücken.
„Komm erstmal rein in die gute Stube“. Sina zieht ihre beiden Jacken aus, die sie wie zwei Wurstpellen übereinander gezogen hat, und läuft in Elmars winziges Büro. „Deine Mappe liegt oben auf dem Schrank!“ ruft Elmar, während er zwei Becher mit Kaffee füllt.
„Ist extra viel Milch für dich drin“, den Kaffeebecher stellt er vor Sina auf den abgeschrubbten Tisch, während sie ihre Zeichenmappe vorsichtig hinlegt und aufklappt. „Was machste denn heute?“ – „Ich versuche was Lustiges. Vielleicht ein paar von deinen Kunden, wie sie ihren Tankdeckel vergessen oder mit dem Ungeheuer Staubsauger ein Kämpfchen austragen …“ Während sie so redet, entstehen wunderbare Karikaturen. „Zeichne doch mal, wie die Leute gerade merken, dass sie zu wenig Geld dabei haben und keine EC-Karte. Dann stehen wir nämlich hier und diskutieren!“ Elmar grinst: „Aber die allermeisten sind ehrlich, zum Glück!“

Eine Frau kommt herein. „Haben Sie auch frischen Kuchen?“ „Nee, leider nicht“ sagt Elmar. „Nur Kekse in ‘ner Packung.“ Die auffallend gut Gekleidete reckt ihren Hals. „Zeigen Sie die mal bitte“. Elmar geht etwas schwerfällig zu den Keksen. „Nein, die kommen nicht in Frage.“ Sie zahlt ihre Tankfüllung und stöckelt zu ihrem Wagen.
„Sina, wollen wir die Plätzken mal testen? Ob die wirklich nich' schmecken? Guck mal, willste Zitrone oder Kokos?“ „Mag ich beides, Elmar.“
Und sie knuspern zusammen in den Vormittag: „Und jetzt erzähl mal, wie gehts deiner Mama?“ – „Ach, Elmar. Ich könnte nur noch heulen. Sie verwechselt mich jetzt ständig mit meiner Oma. Ich tu dann so, als wäre ich die Mutter und sie das Kind. Damit geht es einigermaßen. Sie erzählt viel und lächelt sogar zwischendurch. Aber ich … ich weiß hinterher oft nicht mehr, wer ich wirklich bin.“ „Wie lange schaffste das noch, Kleene? Hast wirklich Pech gehabt.“
Während ein Mann zum Bezahlen in den Tankstellenladen kommt, denkt Sina noch einmal an die Jahre, die glücklicher waren. Oder waren sie das gar nicht? Was ist das überhaupt, Glück?


Papa erzählte damals jedenfalls fröhlich, sie hätten jetzt mehr Geld, sie könnten sich ein eigenes Haus kaufen. „Tschüs, Elmar und Gabi“, rief die kleine Sina, die bald aufs Gymnasium gehen sollte. „Tschüsken, Kleene“. Die Nachbarn winkten, Gabi hatte Tränen in den Augen. „Ist doch nicht weit, die Sina kannste immer noch mal sehen“, tröstete Elmar seine Frau. „Aber ich kenne sie, seit sie auf der Welt ist, dieses wunderhübsche Baby, weißt du noch? Immer hat es gelacht!“ Gabi wollte auch Kinder. Aber mittlerweile war sie wohl zu alt.

„Tankstelle“, raunte die Mutter.

Zwei Kunden stehen am Ladentisch, die wieder einmal irgendwas kaufen wollen, was Elmar nicht bieten kann. Sie beschweren sich über das „dürftige Angebot“, bezahlen knurrig ihr Benzin und gehen.


Sinas Mutter kaufte sich also diesen weißen Mantel, dazu spitze Schuhe, und auch ihrer Tochter sollte man unbedingt ansehen, dass sie nun im besseren Viertel wohnten. Zu Besuch kamen immer mehr feine Nachbarinnen, die an ihrem „Café“ nippten – den sie allerdings Kaffe schrieben – und an den bereit gestellten Keksen naschten, nicht ohne die Kalorienzahl zu nennen. Sina fand das doof. Und doch genoss sie es, wenn sie im Mittelpunkt stand.
„Was für eine niedliche Tochter Sie haben,“ säuselten die Damen. „Hier in der Stadt ist doch bald wieder ein Casting, da sollte sie sich mal vorstellen“. Sina tänzelte also über den Catwalk und ließ sich hundertmal fotografieren, mit teurer Kleidung, mit wenig Kleidung.
„Wie gehts dir, Sina?“ Eines Tages traf sie Gabi auf dem Markt. “Drückt mir mal die Daumen! Vielleicht mache ich den ersten Platz.“ – „Klar drücken wir. Aber komm, Sina, nicht so ‘ne aufgetakelte Zicke werden! Das bist du nicht, das passt nicht zu dir!“
Sina stand ganz oben auf dem Treppchen der Kleinstadtschönen und erschien täglich in der Lokalzeitung, außerdem bekam sie eine Medaille mit Goldauflage umgehängt, die sie jedem zeigen musste. Ständig kamen nun Anrufe, gute und schlechte.

„Erstmal das Abitur“ befand ihre Mutter, und die feinen Freundinnen stimmten zu. “Aber so hübsch, sooo ein Talent. Aus ihr wird mal was!“
Sina hatte jedoch beschlossen, Kunst zu studieren. Ihre eigene Schönheit empfand sie als vergänglich, hingegen unvergänglich Schönes zu schaffen, das wäre ein Ziel, ja.
„Kommt gar nicht in Frage,“ nörgelte die Mutter, „mach was Anständiges! Solange du die Füße unter unseren Tisch stellst, erlaube ich das nicht!“
Der Vater sah nicht ganz ohne Freude auf Sinas Bilder. Sie war begabt, kein Zweifel. „Brotlose Kunst“, murmelte er dennoch. „Sina, geh lieber zur Bank“. Das konnte sich Sina wiederum nicht vorstellen.
Auch die Nachbarinnen rieten ab von der Kunst. „Werde Model, damit kann man gut verdienen. Hast doch nun Erfahrung!“.
Für die Kunstakademie brauchte man eine Aufnahmeprüfung; wie sollte sie die schaffen, wenn ihr alle den Mut nahmen?

Elmar blickt auf Sinas Zeichnungen.
„Weißte noch, wie wir dich damals angefeuert haben? Die Gabi und ich? Wir haben so an dich geglaubt!“ Sina lacht. „Ihr konntet zuerst aber auch nicht viel damit anfangen, dass ich Künstlerin werden wollte“. „Das kannten wir nicht, in unserer Familie gibts das nicht. Aber wie du uns so schön gemalt hast, so, als wärn wir lebendig, da wussten wir: Die kann was.“ Elmar lächelt, Sina auch: „Und wie du mir das super grüne Papier besorgt hast, das war wirklich Klasse! Auf der Akademie haben sie mich sofort Sina Grünblatt genannt! Das mochte ich so gern.“ „Ich versprech dir, das nächste Mal liegt hier wieder ein grüner Stapel. Vom Erwin die Druckerei ist längst pleite, ich find aber was. Ist Ehrensache, Frollein Grünblatt.“
„Nochn Kaffee?“ Der Kaffee gluckert aus der Isolierkanne. „Und als du die Prüfung gerade hattest, starb dein Vater, der hat deinen Erfolg („Erfolch“ sagt Elmar immer) leider nicht mehr miterlebt.“
Ja, das war traurig, denkt Sina. Der Papa. Von einem Tag zum anderen: Herzinfarkt, nichts mehr zu machen. Sina begann schwermütig mit ihrem Studium. Musste viel zu viel jobben, damit sie ein kleines Atelier und ihr Malmaterial bezahlen konnte. Das Studieren zog sich hin. Die Mutter nervte.
Und irgendwann nervte sie so sehr, dass Sina wusste: Das ist krank. „Ist ja wirklich schlimm mit deiner Mama,“ sagt Elmar. „Wie hat das denn eigentlich angefangen?“ Sina schluckt. „Erst erzählte sie mir alles dreimal, dann wusste sie nicht mehr, wo sie ihre Sachen hatte, wurde nervös; und einmal hat sie sogar mich vergessen, da fuhr sie – o Gott – noch Auto und ließ mich einfach stehen.“
Seit einem Jahr muss Sina ihre Mutter pflegen. Sie hat erst das Atelier aufgegeben, dann das Studium. Inzwischen kann sie ihre Mutter nicht mehr allein lassen. Nur dienstags hat sie jemanden: Gabi. „Pass mal auf,“ sagte sie eines Tages zu Sina, „einmal in der Woche tauschen wir einfach, du hilfst Elmar und ich schau nach deiner Mutter.“
Arbeiten auf der Tankstelle. Als Sina den ersten Dienstag bei Elmar ankam, wollte sie gleich anpacken. „Brauchste nicht!“ lachte er, „mach das, was du gut kannst – guck, hier, eine Zeichenmappe und Stifte hab ich für dich gekauft, da kannst du gleich loslegen! Mal dein Leben ‘n bisschen bunt!“
Manchmal führen sie auch Gespräche wie: „Elmar, glaubst du eigentlich an Gott?“ „Der ist wohl da, Sina, aber immer anders. Manchmal ist er auch ganz klein. Aber du bist eine, die ihn trotzdem findet.“ – „Und,“ Elmar flüstert es fast, „der hat noch viel vor mit dir, glaubst du mir das? Die Gabi sagt das auch immer.“
Elmar zieht sich einen grobmaschigen Pullover über den Kopf: „Jetzt muss ich draußen was tun. Wenn du Hilfe brauchst, sag einfach Bescheid – Herzken.“





Bild und Text: © Marlies Blauth












3 Kommentare:

Lucia hat gesagt…

Liebe Marlies,
danke für dieses ungewohnte Stück Prosa. Ich fühle mich tief berührt und beschenkt.
Viele Grüße von Lucia

Iris hat gesagt…

Liebe Marlies, ganz ungewohnt, hier einen Prosatext vorzufinden. So schön und herzenswarm ist der. Ich freu mich richtig darüber.
Liebe Grüße, Iris

Marlies Blauth hat gesagt…

Danke, das freut mich natürlich sehr. Ja, ein paar wenige Prosatexte gibt es - vor allem in der "Schublade". Vielleicht tröpfel' ich sie von Zeit zu Zeit in meinen Blog... mal schauen!