Mittwoch, 16. März 2016

Helene [Kurzprosa]




Helene



Mit der Zeit wurde alles anders.
Die Welt um sie herum schien sich zu beschleunigen, während sie selbst täglich langsamer wurde; Blässe und Müdigkeit gruben sich in ihr Denken. Sie schob es darauf, dass sie in den Nächten nicht gut schlief. Bald merkte sie, dass sie von einer Gleichgültigkeit eingehüllt wurde, die ihr als einer temperamentvollen, mitunter nervösen Frau eigentlich unbekannt war. Sie nannte es Gelassenheit. Wenn ihre Tochter am Telefon von angefüllten Tagen mit Kindern, Ehemann und Beruf berichtete, versuchte sie, etwas von dieser Gelassenheit abzugeben, wegzuschenken. Dabei ahnte sie, dass die Tage des Teilens endgültig vorüber waren.
Sonderbar war ihr zumut: Der Weg, den sie zu gehen hatte, fiel ihr immer schwerer, und gleichzeitig hatte es den Anschein, dass ihr jedes Hindernis aus dem Blickfeld geriet, um sich schließlich ganz aufzulösen. In ihrem Fuß hatte sich eine Thrombose schmerzhaft festgesetzt; so wäre ein Besuch beim Arzt dringend notwendig gewesen. Ihr aber lag nur noch daran, zum Ende des Weges zu blicken, zu hoffen, dass es ein gutes würde, und sich dabei nicht stören zu lassen. Dass sie nun gezwungen war, mühsam durch ihre restlichen Tage zu hinken, nahm sie mit befremdlicher Fröhlichkeit in Kauf.
Hilfsbereite Menschen wollten sie ins Krankenhaus bringen, was sie ablehnte, da sie wusste, es würde nur ein lästiger Aufschub sein. Manchmal vergaß sie dann jene Höflichkeit, die ihr das ganze Leben so wichtig gewesen war, und warf die Fürsorglichen aus dem Haus. Ich bin wie ein Kind, lächelte sie hinterher, das seine Eltern anschreit. Auch die Enge ihrer Wohnung, ihres Lebens, fühlte sie wie ein Kleinkind in seinem Gitterbettchen; sie wusste die Vertrautheit des Übersichtlichen zu schätzen.

Außergewöhnliche Kälte zog durch den Dezember. Sie hatte den strengen Frost nie gemocht und sah ihn nun plötzlich als Freund.
Als sie am Morgen aufstand, war sie seltsam beseelt von tiefer Zufriedenheit, während sie sich doch unwohl und schwach fühlte. Sie versuchte, sich ein Frühstück zu bereiten gegen die Übelkeit, aber der Teller fiel ihr aus der Hand, sie prallte gegen die Küchentür und lag lange am Boden. Das ist es wohl, das Sterben, dachte sie. Vielleicht sollte ich noch einmal baden, alles vom Leben abwaschen. Niemand wird verstehen, warum ich jetzt nicht versuche, das Telefon zu erreichen, warum ich nicht um Hilfe rufe. Schade, dass ich das nicht mehr erklären kann.

Man fand Helene am übernächsten Tag tot vor der Badewanne.






Marlies Blauth



4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

dieser text berührt mich ganz tief.
toll geschrieben!

liebe grüße
gabriele

Marlies Blauth hat gesagt…

Vielen, vielen Dank. Ist auch ein "Herzenstext".

Ule hat gesagt…

Das ist ein eigenartig beruhigender Blick auf das Sterben. Diese stille Versöhnung nimmt den Schrecken, belegt die oft gehörte Behauptung, der Tod sei Teil des Lebens.
Ein sehr beeindruckender Text.

Marlies Blauth hat gesagt…

Hab herzlichen Dank, Ule!