Du sollst nicht Weihnachten
sagen
Ob jetzt ein Spaziergang vernünftig ist?
Eigentlich müsste ich
Kontakt mit meiner Arbeitsvermittlerin aufnehmen. Sie wird jetzt meine
merkwürdige GPS-Spur verfolgen und damit nichts anzufangen wissen. Fragen wird
sie stellen, auch die, warum ich ausgerechnet durch die Paul-Gerhardt-Straße
laufe; es gäbe doch bessere, schönere Wege.
Ich gehe ohne Ziel. Um diese
Zeit arbeiten fast alle, die Kinder sind gut untergebracht, die Alten sitzen zu
Hause oder in ihren Heimen; kaum jemand begegnet mir, es ist ruhig hier
draußen, schönes Wetter, wenn auch ein bisschen kalt. Egal, ich habe meine
Mütze mit, falls es mir am Kopf zu kühl wird.
Ich denke daran, dass ich
keine private Arbeitslosenversicherung abgeschlossen habe. „Selbst schuld!“
sagt mir jetzt jeder dazu. Ja, ich habe es verschwitzt. Meine Stelle schien mir
sicher, mein pädagogisches Examen sah ich im übrigen als Dauereintrittskarte
dafür, jederzeit neu in Schulen und Kindertagesstätten eingestellt werden zu können.
Nun habe ich allerdings jene Art Kündigung erhalten, mit der ich keine Chance
mehr habe: „Sie hat die Kinder indoktriniert!“
Ja, es hatte Mahnungen und
Verwarnungen gegeben; ich hätte mich besser konzentrieren müssen, ich sehe es
ein. Einmal hatte ich „Weihnachtsgeschenk“ gesagt – ogottogott, dachte ich
(hab’s aber wirklich nur gedacht!), jetzt ist es heraus, ich kann es nicht mehr
zurück nehmen. „Was ist das?“ fragte Thomiso. Ich stotterte herum, dass man
sich zum Familienfest gern mal was schenkt, und dass man es früher einmal „W…“
genannt hat.
„Wir weihen hier nichts“,
kritisierte mich mein Chef ungehalten und schob mich ins Lehrgangszimmer: Auf
einem Tisch ein großer flacher Bildschirm mit blinkender Tastatur, davor ein
Stuhl. Mal wieder – Sprachnachhilfe:
Himmel = Weltall
Gott sei Dank = Glück gehabt
er/ sie ist ein Segen = er
/sie ist zu gebrauchen
Sterne sind Objekte im Weltall, wir nennen sie beim Namen!
Also machte ich den Lehrgang
noch einmal. Leergang. Leergespültwerden von allem, was nach Bekenntnis riecht.
Hoffnung = Abchecken der Chancen.
„Meine Oma hat gestern ihre
Nullwerte erreicht“, erzählte Liaba. Ja, so sagt man es richtig. Dann wird man
verbrannt und kommt auf die Sondermüllstätte. Seit fünf Jahren wird dafür ein
Name gesucht, aber alles, was vorgeschlagen wird, klingt zu pietätvoll. Also
sagt man bis heute Sondermüllstätte – es ist doch wie es ist, was soll man
Unschönes beschönigen.
Da fällt mir ein: Als meine
Kinder noch kleiner waren, fanden sie es spaßig, in meinen Gartenbeeten zu
graben. Ich protestierte jedes Mal, konnte aber gut verstehen, dass es spannend
war, hin und wieder Knochen und Schädel zutage zu fördern – denn unser Haus ist
auf einem ehemaligen Friedhof gebaut. „Ja, so war das im Mittelalter,“ sagten
die kleinen Archäologen dann, spülten die Erde von ihren knöchernen Funden, um
sie schließlich mit Leuchtfarbe anzusprühen. „Fürs Gruselfest,“ freuten sie
sich.
Zwei Feiertage ranken sich
um die Gruselnacht des 1. November, einer zum Einkaufen von Gruselkram, einer
zum Aufräumen der Gruselreste.
Eigentlich hätte man durcharbeiten sollen, nachdem die Sonntage zu Werktagen umgewidmet worden
waren, doch um dem Burnout Einhalt zu gebieten, wurden dann doch wieder ein
paar gesetzliche Feiertage eingerichtet. Daneben gibt es die 52 FreiTage, an
denen jeder mindestens vier Stunden sportlich aktiv sein muss. Den Verweigerern
wird anschließend ein doppelter Krankenkassenbeitrag abgebucht, und beim
nächsten Arztbesuch werden unangenehme Lehrgangsfragen fällig.
Ein Spaziergang, wie ich ihn
gerade mache, zählt natürlich nicht. Aber es ist ja auch nicht FreiTag.
Vor gut zehn Jahren war zu
vernehmen gewesen, dass es das Anliegen aller Bürger sei und sein müsse, eine
religionsfreie Kultur aufzubauen. Religion sei, wenn überhaupt, nur noch
Privatsache. Wir bekamen neue Arbeitsverträge, wurden angewiesen, vernünftig zu
denken, vernünftig zu handeln und den Kindern vernünftig zu berichten, ihnen
niemals ein X für ein U vorzumachen und alles, was nicht beweisbar und
erklärbar war, zu tilgen. Anfangs schien das nicht schwierig. Im November
wurden dann eben Lampenschirme für den Winter gebastelt, und es war nicht
falsch, hin und wieder zu erwähnen, alte Klamotten am besten weiterzuschenken,
auch wenn arme Menschen ja eigentlich selbst
schuld an ihrer Lage sind.
Der Vatertag im Frühling ist
sehr beliebt, man trinkt gleich schon am frühen Morgen auf die Tatsache, dass
er niemals auf einen FreiTag fällt und dass man an diesem Tag munter seine
Gesundheits-App abschalten darf, ohne dass es Abzüge auf dem Konto gibt. Was
aber ein „beweglicher Feiertag“ ist, weiß keiner; ich finde das etwas komisch,
weil wir ja eigentlich nur Erklärbares weitergeben dürfen. Vor jedem Vatertag
hoffte ich, nein, checkte ich meine Chancen ab, dass kein Kind danach fragt.
Fragen fürchtete ich auch immer zum Gruselfest, das ja trotz allem kath- äh irisch
kelt- äh Wurzeln hat und eigentlich sehr unvernünftig ist.
Das Familienfest einige
Wochen später ist da noch am einfachsten zu umreißen, wäre da nicht der
ständige Streit wegen der Gesundheits-App – muss man sie eingeschaltet lassen
oder nicht? Mein Chef war sehr dafür und raunzte mich einmal an, weil er nicht
sehen konnte, wieviel Kilo Gans ich zum Familienfest gekauft hatte.
„Hallo?“ meldet sich meine
Arbeitsvermittlerin übers Handy, „heute ist kein FreiTag, was laufen Sie
eigentlich in der Gegend herum? Wir müssen noch darüber sprechen, warum genau
Sie fristlos gekündigt wurden.“ Ich sage „hoppala!“ und werfe das Handy in eine
Pfütze, denn irgendwie ist es mir zu kompliziert zu erklären, warum ich nicht
mehr arbeiten darf.
Aus ganz heiterem Weltall
war es gekommen, ganz schnell war es gegangen, dass mein Chef verkündete: “Elisabeth
– der Name ist sowieso ganz blöd! –, wir haben unsere Wetterstation! Mir reicht
dein missionarisches Getue jetzt endgültig!“
Denn ich hatte zu einem Kind
gesagt: „Ich glaube … es regnet gleich, setz‘ lieber schon mal deine Mütze
auf.“
© Marlies Blauth
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