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Montag, 11. Juli 2022

#Herbarium Tagebuch | 12

 



Von 77 Engeln beschützt: die Evangelische Kirche Essen-Werden

 






Seit dem Jahr 2000 ist sie jeden Samstag von 11 bis 13 Uhr geöffnet, erfahre ich, und so wird es ein Samstagvormittagsausflug für mich. Meine leise Skepsis, ob das mit der Öffnungszeit auch für „meinen“ Samstag gilt, ist schnell verflogen, denn das Eisentor unten an der Straße steht offen, und ein angehängtes Schild sagt eindeutig Kirche geöffnet. So soll es sein.











Als ich in die 120 Jahre alte Kirche eintrete, werde ich freundlich begrüßt, und es folgen anderthalb Stunden Kirchenführung, Plaudern, Fröhlichkeit. Der freundliche Herr, ein pensionierter Kunstlehrer, zeigt mir fast jeden Winkel der Kirche und erläutert mir alles. Die Schlange mit dem Kreuz über dem Eingang, die auch das Kirchensiegel der Gemeinde ist: Mit demütig gesenktem Kopf ist sie, mit ihrer Fähigkeit zur Häutung, Symbol für den „neuen Menschen“ durch den Glauben am Kreuz. Und die 77 Engel(köpfe), die eigentlich, voller Zahlensymbolik, als 7-7 Engel gedeutet werden sollten und die durch einen 78. aus heutiger Zeit ergänzt wurden (Engel von Bagdad / Marianne Kühn).

 












Und florale Ornamente, wohin man blickt! Dabei waren sie ab den 50er Jahren, wie so oft, gänzlich übertüncht. Mein Kirchenführer erzählt, dass das Altar-Ensemble vor den hellen, monochromen Wänden viel wuchtiger gewirkt habe; man kann es sich vorstellen. Das Allermeiste muss man sich eben zusammen denken, Architektur und Ausstattung bilden ein Ganzes, das keine wesentlichen Eingriffe haben möchte. Ich denke gerade an Bungalows der 60er und 70er Jahre, denen man – nicht selten! – verspielt-rustikale Haustüren zumutet: wenigstens ein kleines Stückchen Gemütlichkeit, wenn schon die Architektur so betont sachlich-praktisch ist. Umgekehrt geht es aber auch nicht. Warum die liebevollen Details einfach wegmalern? In den Fünfzigern war, verständlicherweise, Neubeginn angesagt, der Blick nach vorn und nicht zurück. Und der Blick aufs Bauhaus; auch verständlicherweise. Bei den ganz praktisch, schnell und bisweilen lieblos wieder aufgebauten Städten, insbesondere im Ruhrgebiet, vermisst man allerdings vielfach den eigenen Charakter, sehnt sich nach historischen Spuren, die sich durch lange Zeiträume ziehen. Warum man das, was unzerstört blieb, ebenfalls um ein Stück „Charakter“ berauben musste, wird mir immer ein Rätsel bleiben. (*Ergänzung, weil später erfahren: Es war hier, wie vielleicht woanders auch, eine finanzielle Frage: Eine Renovierung der Ornamente war nicht bezahlbar)

So dachte man dann wohl auch wieder in den 90er Jahren: Da wusch man die Farbe ab, die Reste waren aussagekräftig genug, um die Malerei zu rekonstruieren. Was für ein Aufwand, praktisch und finanziell!




freigelegte Malerei, nicht restauriert

 

Nun ist alles wieder da. Ja, es ist dekorativ. Ja, es ist vielleicht auch kitschig; aber eben auch detailreich und besonders. Die Spuren, das Spüren einer anderen Zeit. Man betete und glaubte anders als heute und wiederum anders als im Mittelalter – obgleich man baulich viel Mittelalterliches zitierte („Neogotik“ usw.). Die Kirche wurde nicht, wie in späterer Zeit, als Zweckbau angesehen (der mitunter sogar einer Turnhalle ähneln kann, vielleicht sogar soll), sondern als Ort des Feierns. Ja, vielleicht ein wenig zu opulent, und vielleicht feierten auch viele Menschen einfach sich selbst. Aber gerade diese verschiedenen historischen Standpunkte sind es doch, die, gleichsam in Stein gemeißelt oder Stein / Architektur geworden, bis heute zusammenwirken. Das kann man sehen und fühlen.

 













Wir plaudern fröhlich. Ich erfahre von zwei Treppenhäusern in zwei schmucken Türmchen, die als Sackgasse enden, da man eigentlich mehr Emporen in die Kirche bauen wollte (weil man das rasante Anwachsen der Evangelischen Gemeinde wohl ganz mathematisch sah), davon, dass es gleich beim Neubau schon eine Toilette gab, ganz modern und direkt neben der Kohleheizung; kenne nun den Weg des Pfarrers auf die Kanzel (durchaus bühnenhaft inszeniert) und weiß, dass man durch die Orgel in den Turm kommt.









Bei den floralen Ornamenten sehe ich ein wenig mehr Überliefertes als oft sonst: Kornähren und Weinreben, Rosen und Christrosen – aber auch einfach: Blümchen und Rankenwerk. Gab es zur Erbauungszeit der Kirche nicht auch einen Trend „zurück zur Natur“? Reformkleider (und: -häuser!), Gartenstädte und so weiter? Die ökologischen Sünden, die noch folgen sollten, detektierte man erst 80 Jahre später. Aber dass der (Stadt-)Mensch Licht und Luft braucht, um gesund zu sein, war damals eine wichtige Erkenntnis, die für uns eine Selbstverständlichkeit ist. Der Jugendstil mit seinen Naturmotiven passt dazu.

 




Die neunzig Minuten sind wie im Flug vergangen. Ich sage danke und werde noch auf die Jugendstil-Türen mit ihrem Original-Glas hingewiesen – und mit einem Gott befohlen in die Welt draußen entlassen. Ja, eben nicht „Bleiben Sie gesund!“ oder so. Diese altmodische Formulierung kam so von Herzen und war ganz und gar nicht frömmelnd, dass sie mich tatsächlich anrührte wie ein Segen.

 



 

 

Marlies Blauth | 9. Juli 2022

Text und Fotos © Marlies Blauth

 

 




 




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