Dichtungsring
Heft 61 / Mai 2022
Hrsg. dieser Ausgabe: Ulrich Bergmann, Dennis Mizioch, Werner Pelzer
ISSN 0724-6412
Meine Gedichte abgeschirmt und Fluchtpunkte.
~
▶ Alles, was mein künstlerisches Arbeiten betrifft.
Dichtungsring
Heft 61 / Mai 2022
Hrsg. dieser Ausgabe: Ulrich Bergmann, Dennis Mizioch, Werner Pelzer
ISSN 0724-6412
Meine Gedichte abgeschirmt und Fluchtpunkte.
~
KLEINE AUSSTELLUNG IM TORFHAUS
WESTFALENPARK DORTMUND
BIS EINSCHLIESSLICH MONTAG,
16. MAI 2022
GEÖFFNET TÄGLICH 11 – 18 UHR.
Die Christuskirche in Bochum-Gerthe (erbaut 1909/10)
Ja, man ist überrascht, wenn man den schlanken, eleganten Turmhelm und die liebevollen Details schon an den Außenmauern entdeckt. Sogar ornamentale Malereien gibt es draußen – und hübsche, verzierte Eingangstüren.
Der freundliche Küster schließt mir eine dieser Türen auf und beginnt
sogleich, über „seine“ Kirche zu erzählen; zeigt mir ein vergrößertes altes
Foto vom Originalzustand des Kirchenraums – ein wichtiges Dokument, das aber,
im damals üblichen Schwarzweiß, die fast überwältigende Wirkung der Farbigkeit
kaum wiedergeben kann.
Wie ein Gruß aus dem Paradies herrschen hier die Grundfarben Rot-Gelb-Blau(-Grün) vor – aus denen, theoretisch, alle übrigen Farben gemischt werden können –, mit
hier und da goldenen Sprenkeln, die im Sonnenlicht glitzern und glimmen. Ich
kenne noch das kohlenschwarze Ruhrgebiet, rußige Häuser, bei denen ein Anstrich
nicht lohnte; und hier drinnen das Gegenteil: Farbe satt!
Ich habe nun monatelang künstlerisch mit Kohlenstaub gearbeitet, bis sich
der heftige Wunsch einstellte, nun wieder Farbe zu benutzen. Genau daraus
erwuchs das Projekt Herbarium – Florale Ornamente.
In der Gerther Kirche sind die Ornamente, die sich an Pflanzen und Blumen
orientieren, selten. Dafür ist eine Vielzahl abstrakter Formen zu erkennen, vor
allem Knotengebilde, Bänder, oft innerhalb von Kreisen kunstvoll ineinander
verschlungen, immer wieder neu, immer wieder anders. Die Kreise wirken wie geheimnisvolle
Zeichen, und in der Tat stammt ein solches Flechtwerk wohl unter anderem aus
der germanischen Kunst und sollte einst Dämonen abwehren. Nun, im 19. Jahrhundert
und im beginnenden 20. war das Zierende wichtiger als die ursprüngliche Symbolik,
so dass man davon ausgehen muss, dass die Dämonen und ihre Abwehr hier keine
Rolle mehr spielen. Aber falsch ist es ja nie, das Böse draußen zu lassen, wenn
man eine Kirche betritt. Im Zentrum der Reihe steht jedenfalls ein Kreuz, das
einzige, das einfach vorkommt, während alle anderen symmetrisch-doppelt
vorhanden sind.
Für einige Jahrzehnte war die strahlende Farbigkeit des Raums getilgt worden. Wie so oft, war die Renovierung nach Kriegszerstörungen eine vereinfachende: Die Ornamente wurden übertüncht. Sicher stand die Frage des finanziellen Aufwandes dahinter, die 50er Jahre hatten allerdings auch so viel „Bauhaus“ absorbiert, dass sie das Ornament so bewusst wie vehement ablehnten. Allein auf ein – neues, jetzt noch immer vorhandenes – Gemälde auf der Altarwand wollte man nicht verzichten.
Es gibt einen Vortrag von Adolf Loos, Ornament und Verbrechen, von ca. 1910, also just aus der Erbauungszeit der Kirche. Ja, wir können gut nachvollziehen, dass er sich für eine Trennung von Funktionalität und künstlerischer Ausgestaltung stark macht, denn nicht jeder Gegenstand muss zum Zierrat werden – form follows function, so hieß es sogar schon einige Jahrzehnte früher. „Ornament ist vergeudete arbeitskraft und dadurch vergeudete gesundheit“, heißt es bei Loos.
Nimmt aber diese strikte Zweckmäßigkeit nicht doch das „Seelenvolle“ weg,
nach dem sich der Mensch in seinem alltagspraktischen Leben hin und wieder sehnt?
Architektur ist nicht austauschbar wie ein Gebrauchsgegenstand, sondern beherbergt
menschliches Leben; liebevoll
ausformulierte Details können Individualität ausstrahlen, ja tröstlich wirken.
Ich denke an Friedensreich
Hundertwasser, der Hausfassaden so untergliederte, dass sich die einzelnen Wohnungen
deutlich voneinander unterscheiden lassen (verschiedene Fenster,
Vielfarbigkeit, Verzierungen). Man muss ihn nicht mögen, ich bin da auch
mitunter skeptisch, aber sein Anliegen, mit spielerischer, fröhlicher
Gestaltung dem Menschen Architektur und das Wohnen darin gleichsam anzubieten,
finde ich großartig.
Der Küster berichtet mir weiter, wie man lange ahnte, dass unter der weißen/ elfenbeinfarbenen Schicht „etwas war“. Hin und wieder meinte man, geheimnisvolle ornamentale Schatten zu sehen, aber „niemand traute sich da heran“, vermutlich auch den immensen Aufwand fürchtend, der dem Kratzen an der Oberfläche folgen könnte.
Wie in vielen Fällen, griff auch hier
der Zufall ein – hier in Form von Posterstrips, mit denen eine Dekoration
installiert war. Beim Abnehmen, so der spannende Bericht, blieben weiße Stücke
daran hängen, und es ergab sich ein allererster Eindruck von der Farbpracht darunter.
Was dann kam, lässt mich staunen: Die Gemeinde entschied sich für eine historisch korrekte Restaurierung (man hatte ja besagtes Foto noch). Wenn man sich vorstellt, wie der Restaurator zentimeterweise mit dem Skalpell die verborgenen Schichten freilegt, ahnt man den Umfang des Projekts, das erst 2007 abgeschlossen war: Eine Sehnsucht nach Farben, die Kosten und Mühen weniger wichtig nimmt als sich selbst.
Kürzlich sagte mir jemand: Manchmal fängt man an zu frieren, wenn man eine (v. a. evangelische) Kirche betritt.
Nein, hier muss man nicht
frieren, sondern wird umfangen von Formen und Farben. Die Seele will ein
Zuhause – und das sollte sie, tatsächlich, in einer Kirche finden.
Marlies Blauth | 3. Mai 2022
Florale Ornamente, je 31 cm x 120 cm
Acrylfarbe, Ölfarbe, Schwarzer und Grüner Tee, Teebeutelvlies auf Hartfaser
Was? Schon mehr als ein
Monat ist vergangen, ich habe nicht so viel geschafft wie ich wollte. Ich
sammle Ideen (und Teebeutel, für die Collagen), fühle mich nach diesen
verdammten zwei Jahren aber immer noch schwergängig, und die politischen Sorgen
nehmen nicht ab (Ukraine).
Ich freue mich aber, dass
die Menschen wieder gesprächiger geworden sind, oft sitzen wir im Atelier und
reden einfach. Währenddessen entfaltet sich die Natur beeindruckend, viele Ansichten
fürs Herbarium nehme ich tagtäglich auf.
Marlies Blauth | im April
2022
Text und Fotos © Marlies Blauth
Literaturzeitschrift Johnny 03|22
ANDERE WELTEN
Hrsg. Redaktionsteam Johnny
Goethe-Universität Frankfurt am Main
Ein Lesebüchlein
der Schreibwerkstatt Osterath
mit Lyrik, Prosa, Glossen und Sachtexten
ISBN 978-3-945238-72-1
Wir freuen uns!
Die Friedhofskirche in
Wuppertal-Elberfeld
In meiner Wuppertaler Zeit (1977 – 1991) kannte ich diese Kirche nur von Weitem. Sie machte auf mich immer einen hermetischen und überdimensionierten Eindruck, und überhaupt waren Kirchenbesichtigungen damals fast nur für die alten, mittelalterlichen Kirchen üblich – von denen es in Wuppertal allerdings keine gibt; als eine der älteren fällt mir die Kirche Wupperfeld ein oder, natürlich, die Kirche Schöller, die aber weit außerhalb liegt. Ferner ist mir die romanische Apsis der Alten Kirche Elberfeld bekannt.
Immer schon an Kirchenarchitektur und -ausstattung interessiert, hatte ich mir die meisten Innenräume der Wuppertaler Kirchen im Rahmen von Gottesdiensten angesehen. Dabei war mir allerdings die reformierte Richtung sehr fremd, und ich wusste auch, dass es dort mit Kunst – künstlerischer Gestaltung – eher bescheiden aussieht. Ja: bescheiden; das wollte man in den meisten Fällen tatsächlich sein, warum Geld ausgeben für überflüssigen Tinnef, das Wort Gottes braucht keine künstlerische Unterstützung.
Was ist lange nicht wusste: Beim Bau der Friedhofskirche (fertiggestellt 1898) war man aber wohl der Ansicht, dass ein wenig Farbe und „Design“ vielleicht doch nichts schaden kann. Irgendwie schien man sich auch behaupten zu müssen: Wikipedia berichtet, „Die Einweihung der katholischen Laurentiuskirche im Jahr 1835 hatte einen deutlichen städtebaulichen Akzent gesetzt und die schwindende Vormacht der reformierten Kirche in Elberfeld dokumentiert. Auch die 1858 eingeweihte Neue reformierte Kirche für den Elberfelder Westen konnte ihr den Rang als Hauptkirchenbau nicht ablaufen.“ Und, weiter: „Die Gemeinde begegnete dem geplanten Prunkbau mit zwiespältigen Gefühlen.“
Das kann man sich
vorstellen. Bis heute ist die Friedhofskirche die zweitgrößte evangelische
Kirche im Rheinland.
Nun sehe ich unter speziellen
Aspekten auf die Kirchenräume: Für mein „Herbarium“-Projekt suche ich
insbesondere florale Ornamente in Kirchen. Dass die Friedhofskirche darin eine
reichhaltige Auswahl bietet, war mir lange nicht klar. Das liegt natürlich auch
daran, dass mir früher nur Schwarzweiß-Fotos bekannt waren, auf denen die
ornamentale Fülle nicht angemessen deutlich wurde. Heute gibt es das Internet,
und inzwischen kann man auch viele detaillierte Fotos der Kirchenausstattung
finden. Lange musste man sich mit oft etwas lieblos gemachten Broschüren (und
ihren oft schlechten Fotos) zufrieden geben, denn, wie gesagt, so richtig ernst
genommen wurden nur die romanischen und gotischen Kirchen, während die
Architektur des 19. Jahrhunderts lange als eher unbedeutend empfunden wurde.
Heute hat man glücklicherweise erkannt, was für historische Schätze doch hier und da vorhanden sind, auch wenn sie „nur“ gut 120 Jahre alt sind wie die Friedhofskirche. Ihre Beschädigungen im zweiten Weltkrieg waren nur gering, bis auf die 1943 zerborstenen Fenster ist alles noch weitgehend im Original erhalten.
Die freundliche Küsterin schließt mir die Tür auf, ich fühle mich willkommen, darf mich in der Kirche frei bewegen und alles fotografieren, was mir am Herzen liegt. Und egal, wie ich mich drehe und wende, ich werde fündig: abstrakt-pflanzliche Ornamente schier überall. Sogar der Altar, nein: streng-reformiert heißt er wohl noch immer Abendmahlstisch, hat eine gekachelte Oberfläche mit Blumenmuster, ebenso der Fußboden. Auch wenn es sehr historistisch zugeht, ahnt man, dass der Jugendstil, der den floralen Motiven ja im wahrsten Sinne des Wortes zur Blüte verholfen hat, gleichsam schon an die Tür klopft.
Durch ihre Ausmalung ist die Kirche warmherziger, als ich früher immer dachte. Was Farbe ausmachen kann! Aus der Farbpsychologie weiß ich noch, dass durch die Farbwahl sogar unser Temperaturempfinden beeinflusst wird: Räume in warmer Farbigkeit nimmt man tatsächlich als wärmer wahr, blaue Zimmer sind nichts für Menschen, die leicht frieren.
Und die Ornamente haben – mit ihrer Gestalt gewordenen Geduld – etwas Liebevolles, weil Detail für Detail so freundlich wiederholt ist. Ich spüre: Das ist in der gegenwärtigen Zeit so gar nicht angesagt, denn tausendfache Vervielfältigung ist seit einigen Jahrzehnten technisch einfach und billig, da scheint das Handwerk obsolet. Wie schön aber sind die kleinen, menschengemachten Abweichungen, wie langweilig kann maschinelle Perfektion sein, wenn es um Ästhetik geht. Ich merke: Der eigene Blickwinkel ändert sich mit den Zeitläuften.
Ich verlasse die Kirche mit, wie damals, „zwiespältigen Gefühlen“. Die Küsterin
sagt mir: „Dort vorne hat der Architekt Otzen sogar noch ein Kreuz hingemogelt,
in Form einer Kreuzblume.“ Ach ja, siehste, nicht mal das Kreuzsymbol ist,
streng-reformiert, erlaubt. Warum dann eigentlich Blümchen und Blättchen in
Hülle und Fülle? „Die“ damals hatten damals ja merkwürdige Probleme … die man
heute wohl niemandem plausibel erklären könnte. Bei Wikipedia ist zu lesen, dass
die Friedhofskirche, deren Name ja ganz praktisch auf den Friedhof nebenan verweist,
einst „3. Kirche“ geheißen hat. Ich muss an Tertius und Quintus denken, die
durchnummerierten Kinder in der römischen Antike. Ich glaube, so viel blanke Vernunft
ruft geradezu nach irgendeiner Ausschmückung. Vielleicht also diente sie damals
nicht nur der Repräsentation, sondern ein bisschen auch dem Zugang zu Gemüt und Herzen der Menschen – fürwahr,
dieses Bedürfnis hat sich bis heute nicht geändert.
Marlies Blauth | 30. März
2022
Text und Fotos © Marlies Blauth