Mittwoch, 21. Oktober 2015

Unsere tägliche Ration – Einführungsrede von Dr. Jutta Höfel





Marlies Blauth: Engel



Helga Weidenmüller: Kleine Zeitspur




Unsere tägliche Ration – 

zur Ausstellung von Marlies Blauth und Helga Weidenmüller
in der Galerie Hagenring



Unsere tägliche Ration: Über diese Worte und die darin enthaltenen, sich daraus entfaltenden Gedanken und Bilder haben die Künstlerinnen Helga Weidenmüller und Marlies Blauth das Konzept ihrer Ausstellung gefunden. In ihren vorbereitenden Gesprächen ging es – auch unter dem Eindruck der uns alle bewegenden fliehenden Menschenströme – um Fragen, die unsere Existenz bedingen. Was fürchten wir und was wünschen wir?

Am Anfang steht die Bitte um das Notwendige, das die Not wendet, um diese Sicherheit inmitten der Ungewissheiten und Gefahren, denen wir ausgesetzt sind. Das je Tägliche achtet ein Maß, das nicht auf Bereicherung und Mehrwert angelegt ist, und es akzeptiert unsere Begrenztheit als geschaffene Wesen. Zu dem Brot ersehnen wir den Trost einer Transzendenz, die unsere Endlichkeit überschreitet.

*

Aus diesem Ansatz entwickelt Marlies Blauth ihre Auseinandersetzung mit dem Heiligen in unserem Dasein.
Sie beginnt mit einigen Doppelleinwänden aus ihrer Serie „Psalmen“, die wie aufgeklappte Buchseiten wirken, auf denen der biblische Text notiert ist: hell auf dunklem Grund wie mit dem Griffel auf der Tafel oder dunkel auf hellerem Grund wie mit Feder oder Stift auf Papier, fließend wie Handschrift oder eckig wie mit Keilen in weichen Ton gestempelt.

Die Künstlerin befreit die Verse aus den uns geläufigen Druckspalten, lässt sie wie persönliche Aufzeichnungen erscheinen und steigert durch die Undeutlichkeit einiger Passagen unsere Aufmerksamkeit für die vermeintlich bekannte Botschaft. Wir denken neu über alte Weisheit nach, die sich im Bewusstsein der eigenen Unvollkommenheit mit überzeitlich gültigen Gebeten um Schutz und Wohlergehen an die göttliche Instanz wendet.

Zwischen den „Psalmen“, die durchgehend auf einer Höhe hängen, gruppiert Marlies Blauth Teile aus anderen Zyklen in aufgelöster Ordnung,  eine Auswahl des vielen, das für unser Leben eine Rolle spielt.

Da ist über einer leeren Schale eine Frau mit Kopftuch, deren Augen uns aus einem Gesicht anschauen, das ihre Geschichte geprägt hat. Wovon erzählt sie? Was ist ihre tägliche Ration? Wie weit muss sie dafür gehen? Wird ihr auch der Kelch des Abendmahls erfüllt?

Und diese Hemden, gemalt und collagiert, zu teuer bezahlt für die, die sie fertigen, zu zerschlissen für die, die sie nach uns brauchen, vielleicht unsere letzten, die ohne Taschen, die uns allen gleich sind. Und ihre Form ist das Tau-Kreuz, das Franz von Assisi zu seinem Zeichen wählte.

Wir wandern durch schwarzgraue Landschaften, vorbei an schmutzigen Wiesen und düsteren Häusern, über kiesigen Grus und kahle Hügel und begegnen einem Engel, hoch aufgerichtete dunkle Gestalt in langem Gewand, die durch eine Betonarchitektur gleitet und uns nach Psalm 91 auf allen Wegen behütet.

Auch aus anderen Texten lassen sich Entsprechungen zu dem Bildwerken finden: Von Psalm 22: „du warst meine Zuversicht, da ich noch an meiner Mutter Brüsten war.“ geht der Verweis auf das Porträt einer Frau, die ihr Kind liebevoll umfängt.

Und in der Fortsetzung: „Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe“ ergibt sich die Überleitung zu den zergehenden Frauenfiguren auf der Säule, deren eine in ihrer
Versehrtheit durch Ritzung und Kratzung angedeutet ist, deren anderer Heiligenschein wir dennoch erkennen. Der letzte Vers, den wir lesen, beschließt Psalm 23: „bleiben im Hause des Herrn immerdar“.

Zwischen diesen Arbeiten auf Leinwand sind experimentelle Zeichnungen mit Kohlestaub auf Fotopapier gereiht, Blicke auf das Innere von Zellkernen oder auf Bakterien unter dem Mikroskop, Blicke in die wissenschaftliche Forschung und medizinische Praxis, denen heute nahezu religiöse Wertschätzung entgegengebracht wird.

Gerade an diesem Aspekt lässt sich die Ambivalenz der Errungenschaften unserer Epoche aufzeigen, die Zweideutigkeit, um die es Marlies Blauth auch geht: zum einen weitreichende Verbesserungen des Lebensstandards, zum anderen eine tiefgreifende Kontrolle und Manipulation, die unsere Freiheit beschneidet.

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Damit haben wir auch das Bindeglied zu den Arbeiten von Helga Weidenmüller, die sich mit der Allgegenwärtigkeit und Allmacht unserer Informationskultur beschäftigt. Ihre „Wandteller“ erinnern an die auf Porzellan gemalten Genreszenen, die als Schmuck und zur Erbauung manche gute Stube zierten, aber auch an die Pinnwände, auf denen man feststeckt, was einem durch den Kopf geht.

Die Künstlerin hat Artikel und Anzeigen aus Illustrierten, Mauern mit Graffitis und Plakaten fotografiert, die Aufnahmen bearbeitet und kreisrund passend mit weißem Kränzchen auf den Punkt gebracht.

Schon bei der ersten Ration werden wir auf die Tragweite eingestimmt mit einem Zitat der 2014 in Afghanistan getöteten Journalistin Anja Niedringhaus: „Im Übrigen hat der Krieg massenhaft Worte vergossen wie Blut. Blut fließt, und Worte fließen. Mit der Zeit glaubten die Menschennichts und niemandem mehr, nicht dem Blut und nicht den Worten.“ Wir wissen, dass Sensationsgier und Abstumpfung unserem Gemüt und unserer Mitmenschlichkeit schaden.

Auch bei dieser Installation, deren strenges Raster sich allmählich zerstreut, ergeben sich sinnfällige Zusammenhänge zwischen Texten und Bildern. Ein Karussell mit bunten Figuren,
die Parole: „Wir achten darauf, dass die Kinder auf dem Foto glücklich aussehen“ und die stereotypen Fragen und Antworten nach ihrem Befinden.

Oder der aus sich sprechende Kontrast zwischen einer südamerikanischen Frau, die nachdenklich den Kopf in die Hand stützt und den übereinander geschlagenen nackten Beinen in knappem roten Kleid und High Heels auf dem Schoß eines Mannes.

So kommen Einzelschicksale und Massendemonstrationen, Glamour und Not unserer Geschwindigkeits- und Wegwerfgesellschaft in die Optik des Fernglases, mit dem wir zuletzt aufgefordert werden, noch einmal genauer hinzusehen.

Zum Beispiel auf die Erklärung der Menschenrechte, Artikel 27, Abschnitt 1, den wir als Besucher schwarz auf weiß mitnehmen dürfen für eine Portion kreativer Teilnahme an der Gemeinschaft.

Helga Weidenmüllers Unikatbücher sind aus Zeitungen montiert, zeichenhaft übermalt oder partiell in Farbe getränkt, nach abgetönten Spektren sortiert, so dass die Schichtungen im Schnitt besonderen Reiz gewinnen, unter anderem in reichen roten und violetten Stufen, mit Wachs und Öl imprägniert, geheftet, geleimt und gebunden.

In diesen Kunstwerken, in denen wir mit gebotener Vorsicht blättern, sind die ursprünglichen Nachrichten getilgt, als visuelle Elemente jedoch bewahrt. Entlang dieser Zeitspur fordern uns die Objekte durch ihre ungewöhnliche Schönheit und ihren fragmentarischen Charakter zu einem anderen Umgang mit den Medien auf.

Gegen die kritiklose Rezeption, die uns zur Gleichgültigkeit und Untätigkeit lähmt oder unser Verhalten zu beabsichtigten Reaktionen steuert, können wir die wache Auswahl und selbstbestimmte Handlung setzen, auch Werte wie Bedächtigkeit und Nachhaltigkeit.

Mit diesen Ideen entdecken wir die handlich verschnürte Lektüre ganzer Tage, fragen uns nach dem Ende auch dieses Luxus, in dem wir selbstverständlich schwelgen. Und wir rätseln um eine bleiern umhüllte Buchrolle, deren gut gehütetes Geheimnis vielleicht auf das Wissen anspielt, das im Verborgenen über uns gesammelt wird, um irgendwann gegen uns verwendet und gnadenlos der Öffentlichkeit preisgegeben zu werden

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Der Engel und das Buch, die auf der Einladung unter dem Titel „unsere tägliche Ration“ zusammengeführt sind, ermuntern uns, mit den uns eigenen Fähigkeiten zur Spiritualität und zur Kultur unseren Standort zu überdenken und vielleicht zu ändern. Dazu wünsche ich Ihnen in der Betrachtung der Werke und im Gespräch mit den Künstlerinnen viele gute Anregungen.

Galerie Hagenring, 18. Oktober 2015

©2015 Dr. Jutta Höfel










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