Marlies Blauth: Engel
Helga Weidenmüller: Kleine Zeitspur
Unsere tägliche Ration –
zur
Ausstellung von Marlies Blauth und Helga Weidenmüller
in der Galerie Hagenring
Unsere tägliche Ration: Über diese
Worte und die darin enthaltenen, sich daraus entfaltenden Gedanken und Bilder
haben die Künstlerinnen Helga Weidenmüller und Marlies Blauth das Konzept ihrer
Ausstellung gefunden. In ihren vorbereitenden Gesprächen ging es – auch unter
dem Eindruck der uns alle bewegenden fliehenden Menschenströme – um Fragen, die
unsere Existenz bedingen. Was fürchten wir und was wünschen wir?
Am Anfang steht die Bitte um das Notwendige,
das die Not wendet, um diese Sicherheit inmitten der Ungewissheiten und
Gefahren, denen wir ausgesetzt sind. Das je Tägliche achtet ein Maß, das nicht
auf Bereicherung und Mehrwert angelegt ist, und es akzeptiert unsere Begrenztheit
als geschaffene Wesen. Zu dem Brot ersehnen wir den Trost einer Transzendenz,
die unsere Endlichkeit überschreitet.
*
Aus diesem Ansatz entwickelt Marlies
Blauth ihre Auseinandersetzung mit dem Heiligen in unserem Dasein.
Sie beginnt mit einigen Doppelleinwänden
aus ihrer Serie „Psalmen“, die wie aufgeklappte Buchseiten wirken, auf denen
der biblische Text notiert ist: hell auf dunklem Grund wie mit dem Griffel auf
der Tafel oder dunkel auf hellerem Grund wie mit Feder oder Stift auf Papier,
fließend wie Handschrift oder eckig wie mit Keilen in weichen Ton gestempelt.
Die Künstlerin befreit die Verse
aus den uns geläufigen Druckspalten, lässt sie wie persönliche Aufzeichnungen erscheinen
und steigert durch die Undeutlichkeit einiger Passagen unsere Aufmerksamkeit für
die vermeintlich bekannte Botschaft. Wir denken neu über alte Weisheit nach,
die sich im Bewusstsein der eigenen Unvollkommenheit mit überzeitlich gültigen Gebeten
um Schutz und Wohlergehen an die göttliche Instanz wendet.
Zwischen den „Psalmen“, die
durchgehend auf einer Höhe hängen, gruppiert Marlies Blauth Teile aus anderen
Zyklen in aufgelöster Ordnung, eine
Auswahl des vielen, das für unser Leben eine Rolle spielt.
Da ist über einer leeren Schale eine
Frau mit Kopftuch, deren Augen uns aus einem Gesicht anschauen, das ihre
Geschichte geprägt hat. Wovon erzählt sie? Was ist ihre tägliche Ration? Wie
weit muss sie dafür gehen? Wird ihr auch der Kelch des Abendmahls erfüllt?
Und diese Hemden, gemalt und
collagiert, zu teuer bezahlt für die, die sie fertigen, zu zerschlissen für
die, die sie nach uns brauchen, vielleicht unsere letzten, die ohne Taschen,
die uns allen gleich sind. Und ihre Form ist das Tau-Kreuz, das Franz von
Assisi zu seinem Zeichen wählte.
Wir wandern durch schwarzgraue
Landschaften, vorbei an schmutzigen Wiesen und düsteren Häusern, über kiesigen Grus
und kahle Hügel und begegnen einem Engel, hoch aufgerichtete dunkle Gestalt in
langem Gewand, die durch eine Betonarchitektur gleitet und uns nach Psalm 91
auf allen Wegen behütet.
Auch aus anderen Texten lassen sich
Entsprechungen zu dem Bildwerken finden: Von Psalm 22: „du warst meine
Zuversicht, da ich noch an meiner Mutter Brüsten war.“ geht der Verweis auf das
Porträt einer Frau, die ihr Kind liebevoll umfängt.
Und in der Fortsetzung: „Sei nicht
ferne von mir, denn Angst ist nahe“ ergibt sich die Überleitung zu den zergehenden
Frauenfiguren auf der Säule, deren eine in ihrer
Versehrtheit durch Ritzung und
Kratzung angedeutet ist, deren anderer Heiligenschein wir dennoch erkennen. Der
letzte Vers, den wir lesen, beschließt Psalm 23: „bleiben im Hause des Herrn
immerdar“.
Zwischen diesen Arbeiten auf
Leinwand sind experimentelle Zeichnungen mit Kohlestaub auf Fotopapier gereiht,
Blicke auf das Innere von Zellkernen oder auf Bakterien unter dem Mikroskop,
Blicke in die wissenschaftliche Forschung und medizinische Praxis, denen heute
nahezu religiöse Wertschätzung entgegengebracht wird.
Gerade an diesem Aspekt lässt sich
die Ambivalenz der Errungenschaften unserer Epoche aufzeigen, die
Zweideutigkeit, um die es Marlies Blauth auch geht: zum einen weitreichende
Verbesserungen des Lebensstandards, zum anderen eine tiefgreifende Kontrolle
und Manipulation, die unsere Freiheit beschneidet.
*
Damit haben wir auch das Bindeglied
zu den Arbeiten von Helga Weidenmüller, die sich mit der Allgegenwärtigkeit und
Allmacht unserer Informationskultur beschäftigt. Ihre „Wandteller“ erinnern an
die auf Porzellan gemalten Genreszenen, die als Schmuck und zur Erbauung manche
gute Stube zierten, aber auch an die Pinnwände, auf denen man feststeckt, was
einem durch den Kopf geht.
Die Künstlerin hat Artikel und
Anzeigen aus Illustrierten, Mauern mit Graffitis und Plakaten fotografiert, die
Aufnahmen bearbeitet und kreisrund passend mit weißem Kränzchen auf den Punkt
gebracht.
Schon bei der ersten Ration werden
wir auf die Tragweite eingestimmt mit einem Zitat der 2014 in Afghanistan
getöteten Journalistin Anja Niedringhaus: „Im Übrigen hat der Krieg massenhaft
Worte vergossen wie Blut. Blut fließt, und Worte fließen. Mit der Zeit glaubten
die Menschennichts und niemandem mehr, nicht dem Blut und nicht den Worten.“
Wir wissen, dass Sensationsgier und Abstumpfung unserem Gemüt und unserer
Mitmenschlichkeit schaden.
Auch bei dieser Installation, deren
strenges Raster sich allmählich zerstreut, ergeben sich sinnfällige
Zusammenhänge zwischen Texten und Bildern. Ein Karussell mit bunten Figuren,
die Parole: „Wir achten darauf,
dass die Kinder auf dem Foto glücklich aussehen“ und die stereotypen Fragen und
Antworten nach ihrem Befinden.
Oder der aus sich sprechende Kontrast
zwischen einer südamerikanischen Frau, die nachdenklich den Kopf in die Hand
stützt und den übereinander geschlagenen nackten Beinen in knappem roten Kleid
und High Heels auf dem Schoß eines Mannes.
So kommen Einzelschicksale und
Massendemonstrationen, Glamour und Not unserer Geschwindigkeits- und
Wegwerfgesellschaft in die Optik des Fernglases, mit dem wir zuletzt
aufgefordert werden, noch einmal genauer hinzusehen.
Zum Beispiel auf die Erklärung der
Menschenrechte, Artikel 27, Abschnitt 1, den wir als Besucher schwarz auf weiß
mitnehmen dürfen für eine Portion kreativer Teilnahme an der Gemeinschaft.
Helga Weidenmüllers Unikatbücher
sind aus Zeitungen montiert, zeichenhaft übermalt oder partiell in Farbe
getränkt, nach abgetönten Spektren sortiert, so dass die Schichtungen im
Schnitt besonderen Reiz gewinnen, unter anderem in reichen roten und violetten
Stufen, mit Wachs und Öl imprägniert, geheftet, geleimt und gebunden.
In diesen Kunstwerken, in denen wir
mit gebotener Vorsicht blättern, sind die ursprünglichen Nachrichten getilgt, als
visuelle Elemente jedoch bewahrt. Entlang dieser Zeitspur fordern uns die
Objekte durch ihre ungewöhnliche Schönheit und ihren fragmentarischen Charakter
zu einem anderen Umgang mit den Medien auf.
Gegen die kritiklose Rezeption, die
uns zur Gleichgültigkeit und Untätigkeit lähmt oder unser Verhalten zu
beabsichtigten Reaktionen steuert, können wir die wache Auswahl und selbstbestimmte
Handlung setzen, auch Werte wie Bedächtigkeit und Nachhaltigkeit.
Mit diesen Ideen entdecken wir die
handlich verschnürte Lektüre ganzer Tage, fragen uns nach dem Ende auch dieses
Luxus, in dem wir selbstverständlich schwelgen. Und wir rätseln um eine bleiern
umhüllte Buchrolle, deren gut gehütetes Geheimnis vielleicht auf das Wissen anspielt,
das im Verborgenen über uns gesammelt wird, um irgendwann gegen uns verwendet
und gnadenlos der Öffentlichkeit preisgegeben zu werden
*
Der Engel und das Buch, die auf der
Einladung unter dem Titel „unsere tägliche Ration“ zusammengeführt sind, ermuntern
uns, mit den uns eigenen Fähigkeiten zur Spiritualität und zur Kultur unseren
Standort zu überdenken und vielleicht zu ändern. Dazu wünsche ich Ihnen in der
Betrachtung der Werke und im Gespräch mit den Künstlerinnen viele gute
Anregungen.
Galerie Hagenring, 18. Oktober 2015
©2015 Dr. Jutta Höfel
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