Traute Kessler –
LINIEN
Die Grafik der
Blütenblätter im Sommerlicht*
Liebe Freunde und
Freundinnen des Hagenring, von Traute Kessler und von mir!
Ich stelle mir ein
Stillleben vor:
Traute Kesslers
Atelier, Ende der 1990er Jahre. Auf dem Tisch ein fast fertiges Aquarell;
daneben, zufällig-lamellenartig geschichtet, ein kleiner Stapel Malpapier in
verschieden großen Stücken, mit gerissenen Rändern, wie beim Aquarellpapier oft
üblich. Traute Kessler betrachtet dieses Ensemble aus Papier mit gesteigerter Aufmerksamkeit.
Sie entdeckt, wie sich zahlreiche Weiß- und Grautöne ergeben, teils durch die
reliefartige Schichtung, teils durch die unterschiedliche Tönung und Textur des
Papiers. Und, mehr noch: Die Papiere, Flächen, bilden an ihren Begrenzungen Linien – aus Schatten.
Gewohnt sind wir es
ja umgekehrt (auch wenn wir uns das nicht immer klarmachen): Flächen werden
üblicherweise durch Linien erzeugt, durch Kontur oder Schraffur. So wird es
auch im bekannten Buch von Wassily Kandinsky dargestellt: Punkt und Linie zu Fläche**.
Diesen Weg ist
Traute Kessler zunächst auch gegangen: In frühen Jahren hatte sie hauptsächlich
gezeichnet.
Dann lernte sie die
Handweberei, und es ist im textilen Handwerk ja tatsächlich so, dass fast immer
eine Fläche aus Linien (also: Fäden) erschaffen wird.
Später studierte Traute Kessler in Krefeld
Textildesign, hauptsächlich bei Frau Prof. Barbara Schu, einer
Bauhaus-Schülerin: „Kunst besteht im Weglassen“ war ein wichtiges Motto bei
ihr. Diese bauhaushafte Sparsamkeit erkennt man, so viele Jahrzehnte später, in
dieser aktuellen Ausstellung noch immer. Oder vielleicht sogar noch deutlicher
als in Traute Kesslers früheren Arbeiten.
Das Bauhaus sah im
übrigen den Werkstoff Papier nicht nur mehr in „dienender“ Funktion als
Bildträger, sondern als autonomes Material mit besonderen Eigenschaften.
Und es ist fast,
als habe Traute Kessler bei Josef Albers studiert, dem es am liebsten war, wenn
mit dem Papier ganz ohne Hilfsmittel (Schere, Klebstoff) umgegangen wurde, also
vor allem durch Falten und Reißen. An diese „Richtlinien“ hat sie sich intuitiv
gehalten. Geklebt wird selten; ihre Papierbögen sind fast immer allein auf der
Bildrückseite fixiert.
Dazu gleich mehr. Wie
gesagt: Wir können uns gut vorstellen, wie eine Fläche durch Linien entsteht,
durch Konturen, durch Linienstrukturen – bis hin zu textilen Werkvorgängen, bei
denen mit Fäden gewebt, gestrickt oder gehäkelt wird.
Nach einigen Jahren
Tätigkeit als Textildesignerin arbeitete Traute Kessler schließlich – bis heute
– als freie Bildende Künstlerin.
Fortbildende
Unterstützung holte sie sich vor allem bei Helwig Pütter in dessen Malschule Hagen. Dabei wandte sie sich
intensiv dem Aquarell zu, das Zeichnerische geriet in den Hintergrund, die
Malerei wurde immer flächiger aufgefasst (diese Entwicklung lässt sich gut an
den beiden ausgestellten Akten verfolgen, ein früher, zeichnerisch-linearer,
ein späterer, deutlich malerischer).
Irgendwie kam die
Linie aber in diese gemalten Flächen zurück: Traute Kessler ließ lineare
Strukturen frei – oder ließ sie, maltechnisch generiert, aus den Flächen
entstehen. So bildeten sich vor allem an den Rändern Linien, gleich lebhaften
Konturen, die aber eben nicht vorher mit dem Bleistift gezogen sind, sondern zu
einer nachträglichen Begrenzung gemalter Flächen wurden.
Linien waren also
„angesagt“ für Traute Kessler – aber eben völlig anders als zuvor, nicht länger
im Rahmen einer konventionellen Zeichnung. So kann man sich vorstellen, wie sie
– sensibilisiert dafür – entdeckte, dass geschichtete Papiere lineare Schatten
an ihren Rändern werfen.
Wir kennen das
Prinzip von Buchseiten. Das ist, ästhetisch gesehen, allerdings eher eine
Zugabe, denn wir blättern, um an die Textseiten zu gelangen. Und alle Bücher
einer Auflage sollen genau gleich aussehen.
Traute Kessler
hingegen gibt den Linien einen Duktus und ein Eigenleben – und auch eine
spielerische Komponente.
Dadurch, dass sie
die Papierränder reißt, sie Wellenbewegungen oder an- und abschwellende
Linienformen schafft, bekommen ihre Arbeiten etwas Organisches. Dieser Eindruck
wird unterstützt durch aufstrebende Formen und diagonale Dynamik, nicht selten
assoziiert man Bewegung und Wachsen; durch die Reduktion auf lineare Gebilde
meint man im übrigen, hin und wieder Blatt- und Blütenformen zu entdecken, die
sich aus dem linearen Schattenspiel entfalten:
Die Grafik der
Blütenblätter im Sommerlicht.*
Das „Eigenleben“
der Schattenlinien ist natürlich auch abhängig vom Ort, von Art und Richtung
der Lichtquelle. Die Arbeiten von Traute Kessler sind folglich jeweils auf ganz
innige Weise mit ihrer Umgebung verbunden.
Indem die
Künstlerin mit dem Schatten gestaltet, zeigt sie uns den Gegensatz zu einer
gestaltlosen „Schattenwelt“; auf poetische Weise führt sie uns das Werden und
das Sein vor – und nicht das Vergehen oder das Nichtmehr-Sein. Letzteres würde
sie zwar nie leugnen; aber es spielt hier schlichtweg keine Rolle. So dürfen
wir mit Traute Kessler hoffnungsvoll ins Zukünftige blicken, dürfen das
Pessimistische, Schwere, das Gestaltlos-Dunkle getrost eine Zeitlang vergessen.
Und wir feiern
heute eine wunderschöne Ausstellung mit Traute Kessler, im Oktober dann
ihren 80. Geburtstag.
Wie jung – und das
meine ich jetzt nicht floskelhaft – wir Künstlerin und Kunst empfinden, das
können wir uns von dieser aktuellen Ausstellung wieder einmal sagen lassen. In
diesem Sinne wünsche ich einen fröhlichen Rundgang, der hiermit eröffnet ist!
Marlies Blauth,
August 2017
*Angeregt durch den
Dichter Jürgen Becker (*1932):
im Winterlicht die Graphik der Zweige („Graugänse über Toronto“ S. 51)
**Aus dem Punkt, der sich
in eine Richtung „schiebt“, wird eine Linie; eine wie auch immer gekrümmte
Linie erzeugt eine Fläche
Foto: Regina
Lehrkind/ Hagenring
Abbildungen: Traute Kessler
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