Ausstellung Dina Nur – AMBIVALENZ
im Kunstraum Notkirche, Mülheimer Straße 70, 45145 Essen
18. Februar – 1. April
2018
Meine Damen und Herren,
ich sage es gleich: diese Ausstellung lässt
sich – in ihrer Ambivalenz – nicht vollauf verstehen. Wir können uns allerdings
anrühren, mitnehmen lassen. Darauf einlassen – so ähnlich wie bei einem
lebendigen Gegenüber.
Figürliche Darstellungen im Kirchenraum haben
eine lange Tradition.
Ist es Zufall, dass ausgerechnet dann ein
Bruch eintrat (in Gestalt des Protestantismus mit seiner Abstraktion), als das
Individuum Einzug hielt in die Kunst?
Dina Nur macht das Gegenteil: Sie ent-individualisiert.
Der Mensch – sagt sie – sei ihr Thema. Sie sagt es nicht nur im Gespräch
über ihre Arbeiten, sie sagt es natürlich auch mit ihren Arbeiten.
Obwohl es ein ganz anderes Genre ist, musste
ich dabei ziemlich bald an die Ikonenmalerei denken. Ich finde es ganz logisch,
dass sie sich bis heute gehalten hat, dass sie im Gegensatz zur kirchlichen
Kunst des Westens keinen wesentlichen Brüchen unterworfen war (und sie nie
„außen vor“ gelassen wurde):
Sie wollte nie Individuen abbilden und versteht
es bis heute, einen Abstraktionsgrad zu bewahren, der gut tut.
Weil sie sich nie in portraithaften Details
verlor und das Wesentliche, den Kern ihrer Aussage nicht durch modische
Nebensächlichkeiten verwässerte.
Ikonen vergegenwärtigen das Heilige.
Dina Nurs Arbeiten vergegenwärtigen auch –
zunächst das „Menschliche“, und man sieht, wenn man will, das Heilige
durchscheinen.
Die Künstlerin unterscheidet nicht – oder
besser: sie lässt uns nicht unterscheiden – zwischen Du und Ich, männlich und
weiblich, jung und alt.
So weit geht ihre Abkehr vom Individuellen,
ihre Hinwendung zum Abstrahierten, zum Essenzhaften – so dass eben der Mensch übrigbleibt in seiner
Nacktheit und Versehrtheit einerseits, was aber gleichzeitig auf seine Anmut
und Vollkommenheit andererseits hinweist:
eben auf die umfassende Ambivalenz des
menschlichen Daseins.
Laut Bibel (und auch Koran übrigens) hat der
Schöpfer uns aus Erde, Lehm oder Schlamm geschaffen und geformt.
Dina Nurs Arbeitsweise erinnert an diesen
bildhaften Prozess:
Für ihre Skulpturen/ Plastiken, ihr Hauptwerk,
benutzt sie Ton, Beton oder Kunststein (der auch erst einmal flüssig ist) und
gestaltet damit ihre Figuren.
Aber sie würde nie in „Konkurrenz“ treten
wollen zur göttlichen Schöpfung, nichts liegt ihr ferner als eine, ja,
hochmütige Perfektion:
Ihre Gestalten bleiben oft unvollständig, als
Betrachter muss man den Prozess der Schöpfung weiter denken, zu Ende denken,
das Fehlende ergänzen.
Wir sind also gefragt. Ja, sogar im wörtlichen
Sinne. Der ständige Hinweis auf das Ambivalente stellt immerzu Fragen.
Ein Teil der Plastiken ist in Tücher gehüllt.
Warum ist das so?
Dina Nur berichtete, dass dieses „Einpacken“
zum Arbeitsablauf gehören kann: Wenn nämlich die anfängliche Modellierung mit
Ton vor dem Austrocknen bewahrt werden soll.
Später werden meist Gips-Negativformen davon
abgenommen, diese wiederum mit Beton ausgegossen.
Die Ästhetik mit den Tüchern, also eigentlich
ein provisorischer Zustand, zeigte sich unerwartet stark und bat gleichsam um
Bewahrung. Vermutlich deshalb, weil uns die eingewickelten Plastiken einerseits
näher rücken (wohl weil wir es tagtäglich mit „verhüllten“/ angekleideten
Menschen zu tun haben), sie andererseits – schon wieder ambivalent – aber noch
eine Stufe un-individueller werden.
Durch das Heranholen des
Scheinbar-Alltäglichen entsteht also gleichzeitig ein Befremden, vor allem
deswegen, weil die Gesichter nun
vollständig eingewickelt sind.
An den unverhüllten Figuren mit ihren
unverhüllten Köpfen sehen wir natürlich, dass es sich nie um unverkennbare,
portraithafte Gesichtszüge handelt; die Tücher jedoch machen uns argwöhnisch,
scheinen uns den Weg zu versperren zu dem, was wir neugierig erwarten und also
sehen wollen, sogar mit dem Wissen, dass es Dina Nur überhaupt nicht um das
Individuum geht. Wir meinen, dass uns etwas vorenthalten wird, gewinnen
mitunter den Eindruck, die Figuren könnten aggressiv sein.
Es ist vermutlich unsere eigene Aggression,
die wir da spüren.
Dina Nur spricht davon, wie der Mensch
wirklich, ehrlicherweise, essenzhaft ist.
Und da müssen wir uns fragen (lassen), was wir
selbst von uns „verhüllen“, was wir verstecken wollen oder müssen – oder auch,
wo wir uns einer Uniformierung unterwerfen (Modetrends?), wo wir sogar
freiwillig Individualität abgeben.
Auf seiner Flucht aus dem Paradies erkannte
der Mensch, dass er nackt war – daran denke ich, wenn ich diese eingewickelten
Figuren sehe. Denn sie lassen in der Tat an Flüchtende denken, die sich
behelfsmäßig kleiden müssen, gegen die Kälte oder weil sie ihre ursprüngliche
Kleidung verloren haben.
Und damit meine ich nicht nur jene, die seit
gut zwei Jahren immer wieder politisches Thema sind, sondern alle Menschen, die
ein Paradies oder eben ein Nicht-Paradies verlassen (müssen).
Es könnte uns ja auch treffen: Bei einer
plötzlichen Evakuierung wären wir selbst Teil einer Menschengruppe, bei der es
– schnell, schnell – allein um Sicherheit und Überleben geht. Wir wären fragil
wie Dina Nurs Gestalten. Man würde uns, wenn wir Glück haben, in Decken und
Tücher wickeln, provisorisch, vielleicht ist der Stoff zerlöchert oder mit
Rissen.
Und wir wären dankbar dafür, weil sie unsere
Blößen bedecken und wir nicht mehr frieren. Wir würden warten, verharren wie
Dina Nurs Menschen.
Und wir hätten auch Hoffnung, wie sie bei
einem Teil der Figuren ja auch verkörpert wird: Das sind diejenigen, denen man
einen Aufbruch und Ausbruch aus dem Moment ansieht (vor allem die Figuren in
den Kuben).
Die Bewegung und Veränderung, Leichtigkeit bis
zur Körperlosigkeit in sich tragen:
Das ist besonders in den Zeichnungen spürbar.
Hier geht es weniger um den Einzelnen, sondern um Begegnung, gemeinsam
gegangene Wege (eventuell auch ins Elend), gegenseitige Beeinflussung, Leben in
der Gruppe – Formationen, die das Leben aufzeichnet.
Egal, ob Zeichnung oder Skulptur: Die
Künstlerin hat ihre Figuren in die Schwebe gebracht zwischen Anfang und Ende, Leben
und Tod, Ruhe und Bewegung; zwischen ästhetischem Tanz und skurriler
Verrenkung, naturgetreuer Darstellung und Zeichenhaftigkeit.
Diese Menschen besitzen gleichermaßen
Lebenswillen und Trotz, es ist, als wollten sie uns entgegentanzen: Carpe diem! Nutze den Tag, genieße den
Tag.
Ja, Totentänze und „Lebenstänze“ in einem,
ganz gleichzeitig. Wir wissen, dass das kein Widerspruch ist, wir kennen die
Ambivalenz, die uns zeitlebens begleitet.
Die zentrale Arbeit von Dina Nur wirkt durch
ihre besondere Fragilität fast un-irdisch, vergeistigt, „abgehoben“. Nicht von
dieser Welt, sagt man auch (so heißt es übrigens auch in der Bibel bei
Johannes). Als sei ein Mensch hier auf dem Weg ins Himmlische. Und zwar, ganz
überraschend, kletternderweise. Das Gestell, Gerüst, auf dem er unterwegs ist,
erinnert an ein Kreuz. Man rätselt: Sollen wir anhand der spitz wirkenden
Drahtstäbe Folter nach-fühlen können? Löst sich das (christliche) Kreuz hier
ins Immaterielle auf? Ist es – antennenartig – wie eine symbolische Verbindung
ins Ewige?
Nicht zufällig wird diese Ausstellung in der
Passionszeit gezeigt, die gerade begonnen hat.
Passionszeit und Ostern, vor allem die
Karwoche: Alles höchst ambivalent.
Bejubelter Empfang am Palmsonntag, das
Sich-Verneigen des Gottessohns bei der Fußwaschung, Abschiedsmahl, Folter, Tod
und Auferstehung zum Allerhöchsten – wir könnten heute sagen: Die Seele fährt
Achterbahn, wenn wir da „mitgehen“.
Dina Nurs Menschenfiguren erzählen nicht diese
Geschichte, aber sie lassen sie uns er-ahnen
– und zwar oft intensiver, als uns lieb ist.
Denn alles ist ja schon in uns, unsere Ahnen,
auch die im Glauben, haben alles erlebt, miterlebt, nacherlebt und es uns
weitergegeben.
Wir wissen nicht, was auf uns zukommt – aber
was es auch ist, wir teilen es mit der Menschheit und eben auch mit dem Mensch
gewordenen Gott.
Darauf mag die Ausstellung ein Hinweis sein,
der unser Herz berührt.
Abschließend noch ein paar Worte zur
Künstlerin selbst:
Auch da viel Ambivalenz –
Dina Nur ist aufgewachsen in zwei Welten: Sie
wurde 1963 in Khartoum im Sudan geboren, wo sie einen Teil ihrer Kindheit
verbrachte.
Später lebte sie hauptsächlich in Dortmund,
dort studierte sie Objektdesign mit dem Schwerpunkt Bildhauerei und hat sie
heute ihren Wohnsitz, ihr Atelier. Neben der Bildhauerei arbeitet sie auch an
verschiedenen Bühnenprojekten mit.
Ihre Menschenfiguren haben viel aufgenommen,
was Dina Nur selbst erlebt hat:
Marlies Blauth
Homepage Dina Nur
Homepage Kunstraum Notkirche
Fotos: Marlies Blauth
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