Sonntag, 10. Mai 2020

Zum Muttertag











Muttertag – das war immer „so halb“ ein Thema für uns zu Hause. Meine Mutter fand den Tag doof, freute sich aber trotzdem, wenn irgendeine Kleinigkeit anders war, wenn mein Vater und ich beispielsweise den Tisch „schön“ eindeckten. Während sie etwas befremdet lächelte, wenn ich aus der Schule etwas zum Muttertag mitbrachte, das sie nicht gebrauchen konnte und das auch gar nicht meine Handschrift trug.

Meine Ma ist nun fast zehn Jahre tot. Wir hatten eine ganz spezielle Zeit zusammen, über 50 Jahre lang. Sie konnte ziemlich eigensinnig sein und ich auch, das verbindet zwar, lässt aber auch Vieles mächtig rasseln. So gab es Zeiten, in denen wir uns überhaupt nicht verstanden. Ich ging durch diverse Trotzphasen (die jugendliche war besonders lang und intensiv), und meine Mutter legte ihren eigenen Trotz dann auch nicht/ erst recht nicht ab. Peng. Auf den ersten Blick wirkte sie spießig und brav, aber sie hatte es in sich: Was sie nicht wollte, machte sie nicht. Sie wollte nur ein Kind, das war dann ich; dieses zu einer Zeit, als „man“ doch wenigstens zwei … damit es kein Einzelkind wurde. Folglich wurde sie für Entschlüsse dieser Art sehr angefeindet. Sie mache es sich sehr einfach, hieß es unter anderem.
Mir gegenüber war sie oft kritisch, befürchtete wohl, dass sie sonst ein verwöhntes (eben Einzel-)Kind heranziehen würde. Oft kamen erst alle anderen dran und dann ich. Ich war des öfteren not amused; aber heute bin ich ihr, lange schon, dankbar. Meinem Vater übrigens auch; der ging mit ihr d’accord und überließ ihr den pädagogischen Bereich nicht allein, allerdings war sie, bis ich Jugendliche war, nicht berufstätig und „erzog“ schon rein zeitlich mehr als mein Vater.

Erwähnenswert sind natürlich ihre Improvisationskünste und ihre pazifistische Einstellung, die sie wirklich Tag für Tag „lebte“.

Von Kunst hatte sie keine Ahnung. Aber sie war ein Feuerwerk an Kreativität! Es gab so gut wie nichts, für das sie keine Lösung fand. Sie konnte, sozusagen, aus Nichts etwas machen. Und sie war eine Meisterin der „Eselsbrücken“, wenn es um Schulisches ging und ich was nicht kapierte oder mir nicht merken konnte. Am schlimmsten war es bei mir in Französisch, einem Schulfach, mit dem ich so lange über Kreuz lag, bis ich es abwählen konnte (juchu). Aber das Vokabel-Abfragen durch meine Ma war doch so nachhaltig, dass ich noch heute falsch geschriebene französische Wörter meiner Kinder korrigieren kann. Und ich weiß über all die Jahre, dass „le grenier“ der Speicher heißt, eine Vokabel, die ich mir einfach nicht merken konnte und die mir meine Mutter mit einem Kürzestkrimi in den Kopf gedonnert hat: Stell dir das Skelett eines toten Soldaten („Grenadier“) auf dem Speicher vor … voilà! Zuvor waren wir zusammen Trampolinspringen, dann kamen die Vokabeln – es war ein schöner gemeinsamer Tag draußen, der sich immer noch in meinem „Erinnerungsspeicher“ befindet.
In Mathematik lehrte sie mich das logische Denken. Immer wenn ich auf logische Abwege geriet, pfiff sie mich zurück. Was auf die Dauer zur Folge hatte, dass ich meine Mathe-Aufgaben bis zum Abitur zwar sehr umständlich löste, aber fast immer richtig – was wiederum die gerade aktuellen LehrerInnen zum Staunen brachte. „Du fährst aber auch (von Dortmund) nach Köln über Berlin! Aber hast es geschafft, okay.“
Durch unlogische Ausreden disqualifizierte man sich – logisch! – bei meiner Mutter sofort. Lügen war absolut unzulässig.

Meine Mutter kannte keine Feindseligkeit, keinen Hass. Selbst das Wort war verboten. „Ich hasse Französisch!“ Nein, so durfte ich das nicht sagen, und schon gar nicht „Ich hasse die Sabine.“ Sogar mit den Menschen, die sie als Fünfzehnjährige mit ihrer Familie aus deren Haus vertrieben hatten (Schlesien), ging sie verständnisvoll um. „Das waren selbst Vertriebene, und die Deutschen hatten eben ihren schrecklichen Krieg verloren.“ „Ja, und was habt ihr dann gemacht?“ fragte ich. „Wir haben das mitgenommen, was wir durften, und wurden erst einmal im Pfarrhaus aufgenommen, wenig später mussten wir dann alle weg.“ Ich bewundere sie noch heute, wie sie das einfach nur sachlich und ohne jede Verbitterung erzählte. Und ich bin fest davon überzeugt, dass mich diese, ihre Grundstimmung zu einem durchweg friedlichen, friedenshungrigen Menschen gemacht hat – wobei ich natürlich die sensible und moderate Lebenseinstellung meines Vaters auch nicht unerwähnt lassen möchte. Von beiden wurde ich immer wieder zur Sachlichkeit gemahnt, wenn ich heulend und keifend irgendwelchen Menschen irgendwas unterstellte. Da wurde erstmal ein „Faktencheck“ unternommen; und wenn ich selbst nicht unschuldig war an der entsprechenden Misere, wurde mir das unverblümt aufgetischt. Und niemals hätten meine Eltern, insbesondere meine Mutter, mich einfach-so vor anderen verteidigt; erstmal musste sortiert werden, ob ich was auf dem Kerbholz hatte oder nicht. Aber jeder wurde verteidigt, dem wirklich übel mitgespielt wurde – egal, ob er der Familie nahestand oder nicht.
Auch Häme verbat sie sich strengstens.

Und sie war „gottesfürchtig“. Die Kirche ging ihr auf den Wecker, die fand sie aufdringlich, daher verließ sie sie nach dem Tod meines Vaters. Aber der liebe Gott blieb immer eine Instanz für sie, bis zuletzt. Offensichtlich hatte sie tatsächlich eine Direktverbindung zu ihm, denn ihre Wunsch-Aussage „Altenheim? Nee. Ich fall tot zu Hause um!“ bewahrheitete sich. Nicht ohne vorherigen Streit mit mir, ich wollte sie zum Arzt geradezu zwingen, aber nicht mit ihr! Lieber machte sie sich unbeliebt, als etwas aufzugeben, was ihr wichtig war. Ich habe lange gebraucht, zu akzeptieren, dass ihr Lebensende eben so sein musste wie es war.

In meiner Jugend war es, wie gesagt, nicht einfach mit ihr. Schon in der späten Kinderzeit reagierte ich nicht selten als „beleidigte Leberwurst“, wenn alle anderen eine fein-komplette Karnevalsverkleidung hatten (hatten sie gar nicht, aber die „mit Geld“ natürlich) und ich irgendwas Zusammengestoppeltes anziehen musste. Bekam handgestrickte Klamotten an – und musste mich nicht nur von den Kindern neureicher Eltern kritisch beäugen lassen, sondern besagte Eltern hatten auch noch eine doofe Bemerkung parat. Alle anderen Mädels hatten passende Schuhe zu ihrem Outfit, ich musste improvisieren. Es half nichts; ich wurde in meine Schranken gewiesen, und der allbekannte Mutter-Tochter-Kleinkrieg dampfte jahrelang vor sich hin. Zwei Dickschädel, die ständig aneinandergeraten. Die Bescheidenheit meiner Mutter nervte mich, erst viele Jahre später begriff ich, dass sie ihrer Zeit um Jahre voraus war. Plastik? Nein danke! –  bei ihr schon in den 70er Jahren. Antibiotika? Die brauchen wir für den Notfall und nicht bei ‘nem Schnupfen, sonst wirken die nicht mehr. Konsum? Bitte piano, nicht herum“aasen“ mit den Ressourcen. Umwelt und Klima waren früh ihr Thema, und sie versuchte, einigermaßen konsequent zu handeln. Fleisch aß sie schon lange nicht mehr, selten einmal etwas Fisch, weil ihr das vom Arzt geraten worden war. Nur in einem war sie nicht konsequent: Sie brauchte „es warm“. Wenn sie winters im T-Shirt durch die Wohnung hüpfte, kam ich als klugscheißende Jugendliche: „Siehste! Was du hier machst mit deiner Heizerei!“ Daraufhin zählte sie mir auf, was sie alles nicht macht. Und mit Schaudern dachte ich an die Schlichtwohnung (die eine Dienstwohnung war!) meiner Großeltern, über die sie nach ihrer Flucht froh sein mussten, und in der meine Mutter auch noch ein paar Jahre lang gewohnt hatte: Ohne Bad (-> Wannenbad/ Schwimmbad), ohne Toilette (-> Plumpsklo „übern Hof“), ohne Zentralheizung (geheizt werden konnten nur Küche und Wohnzimmer, und das auch nur so lala). Diese kalten Zimmer blieben selbst mir bis heute in Erinnerung, und ich war glaube ich 4, höchstens 5 Jahre, als meine Großeltern endlich eine „richtige“ Wohnung bekamen.

Meine Mutter haderte jedoch nie mit diesen Erfahrungen. Sie genoss es, dass nun alles gut war. Aber: Bloß nicht überschnappen und allzu sehr im Wohlstand schwelgen, die Zeiten bleiben nicht unbedingt so, und dann muss man ohne Luxus überleben (können).

Wie viel habe ich von ihr gelernt! Auch wenn der Weg oft steinig war und ich mich immer mal verkannt und verletzt und klein gehalten fühlte. Wenn die anderen als Schätzelein auf Samt gebettet wurden, nannten mich meine Eltern (ebenso liebevoll, aber das musste ich erst lernen) „na, alte Fischhaut“, klopften mir auf die Schulter und lächelten mich fröhlich an. Samt gab es nicht, ein Baumwollkissen musste ausreichen. Und ich fühlte mich verletzt, wenn meine Mutter mich „Bangbux“ nannte. Ich war halt vorsichtig und ängstlich und vermutlich hochsensibel, doch die Zeiten waren nicht so, dass sie ein hochsensibles Kind schonen wollten. Gerade bei einem Einzelkind musste man da gegenarbeiten, war die Überzeugung meiner Mutter. So ganz falsch war das nicht, auch wenn sie meine künstlerischen Neigungen lange wenn nicht übersehen, so doch nicht richtig ernstgenommen hat – wofür sie sich später entschuldigte.

Als ich gut 20 Jahre war und mit einigen Gleichaltrigen Urlaub machte, sagten sie anerkennend, als ich Kochdienst hatte: „Du kannst ja aus Nichts was machen!“ Da spürte ich, dass ich das von meiner Mutter gelernt, fürs Leben gelernt hatte. Ihre patente Art habe ich nicht geerbt, ich bin eher nach meinem Vater, dem empfindsamen Musiker, geraten. Aber ich habe von ihr gelernt, dass es Lebensqualität bedeutet, Probleme anzugehen statt herumzunöhlen, friedlich statt feindselig mit Menschen offen zu sprechen, wenn „was ist“, und letztlich auch manches „dem lieben Gott“ zu überlassen.
Danke!

© Marlies Blauth, 2020
















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