Samstag, 27. Juni 2020

Ein Brief an die Freundin











Liebe Freundin,

wir kennen uns jetzt schon lange, sehr lange.
Als Du mich gestern anriefst, habe ich mich gefreut. Aber dann haben wir uns die ganze Zeit nur über eines unterhalten: Corona.

Ja, das ist das aktuelle Thema, um das wir nicht herumkommen; ich weiß. Egal aus welchem Blickwinkel, es betrifft uns alle. Wahrscheinlich mich sogar mehr als Dich – denn Du bekommst Dein Gehalt weiter, während ich als „Freie“ kaum arbeiten kann und kein Kurzarbeitergeld erhalte. Nicht einmal die mit Pauken und Trompeten angekündigte Soforthilfe für Kulturschaffende habe ich bekommen, obwohl ich alle Kriterien erfülle. Ich bin einfach durchs Raster gefallen. Und dennoch scheine ich fröhlicher und optimistischer zu sein als Du. Aus Deinen Worten sprach nur eines: Angst. Du traust Dich kaum nach draußen, hast sogar Angst, wenn an der frischen Luft – wo die Ansteckungsgefahr, wie man mittlerweile weiß, sehr gering ist – jemand an Dir vorbeiläuft.
In Deiner Stadt, sagst Du, „steigen und steigen die Infektionszahlen“. Oh, denke ich, das klingt schlimm, dann werden wir wohl bald in der Zeitung etwas lesen, über einen neuen Hotspot in Deiner Nähe. Aber dann google ich und sehe, dass man die Infektionen fast an zwei Händen abzählen kann und dass sie aktuell gar nicht steigen, Differenz null heißt es im Bericht aus Eurem Kreis. Ich hoffe, Du hast das auch gesehen und kannst Dich – wenigstens ein bisschen – freuen.

Daran habe ich aber meine Zweifel. Man muss gar nicht zwischen Deine „Zeilen“ hören, um Deine Angst mitzuempfinden. Um ehrlich zu sein: Ich kann diese Verzagtheit kaum aushalten. Ja, auch ich habe Respekt vor diesem Virus. Vor vielen Jahren hatte ich mal eine eigenartige „Sommergrippe“, bei der es mir richtig schlecht ging, ich war zeitweise fast zu schwach, überhaupt zu husten. Wenn ich mich richtig erinnere, war ich zwei Wochen krank und weitere zwei Wochen kränklich, das Fieber war hoch und meine Kraftlosigkeit schlimm. Das wünscht man niemandem – und auch sich selbst nicht noch einmal. Und einen noch schlimmeren Verlauf sowieso nicht.
Nicht uninteressant zu beobachten war, dass sich von meiner sechsköpfigen Familie nur eine Person angesteckt hat, und das, obwohl ich mittendrin war (wie soll auch eine Quarantäne in einer gemeinsamen Wohnung gehen?). Vier blieben gesund, darunter der Älteste, der damals auch schon so langsam auf das Alter zuging, für das man ein deutlich weniger verlässliches Immunsystem prognostiziert.

Heute gehöre ich selbst dazu. Aber ich glaube, ich hätte in jedem Alter Respekt; als junge Erwachsene hatte ich übrigens ein deutlich fragileres Immunsystem als heute – warum auch immer. Vermutlich lebe ich heute gesünder, ich weiß aber nicht, ob es nur das ist. Ich vertraue diesem Immunsystem, genauso wie ich den Autofahrern vertraue, dass sie mich nicht über den Haufen fahren, sobald ich meine Wohnung verlasse. Natürlich bin ich hier wie dort vorsichtig; so wie ich keine Veranlassung sehe, mich in Menschenmengen zu mischen, überquere ich auch keine Autobahn. Mir kommt es allerdings so vor, als würde jedem, der versucht, so viel „Normalität“ zu leben wie es eben geht, genau das vorgeworfen: Fahrlässigkeit.

Nein. Du kennst mich; ich bin alles andere als ein fahrlässiger Mensch. Eher die Vorsicht auf zwei Beinen – manchmal zum Leidwesen meiner Kinder, die mir tatsächlich immer mal wieder Übervorsicht und Schwarzmalerei vorgeworfen haben.

Da kannten sie allerdings die Podcasts von Christian Drosten noch nicht. Du hörst sie gern; das merkt man.
Wenn Du mir erzählst, dass Du Dir jüngst einen Stapel medizinischer Masken zum Einkaufengehen besorgt hast, knapp sieben Euro fürs Einmalvergnügen, dann sage ich: Deine Angst ist real, ja, aber wenn Du das Einkaufen derart scheust, wie Du mir berichtet hast, warum lässt Du Dir nicht alles, was Du für den Alltag brauchst, liefern? Knapp sechs Euro nimmt REWE dafür, da sparst Du einen Euro und den Maskenmüll. Bei Dir, soweit ich weiß, könnte man die Lieferung sogar „kontaktlos“ hinstellen. So würde ichs machen und dann kein weiteres Wort darüber verlieren. Aber offenbar wolltest Du über Deine Angst sprechen und darüber, wie Du ihr begegnest. Leider mehr schlecht als recht.

Natürlich kannte ich die Drosten-Podcasts schon, sie werden von vielen meiner FreundInnen empfohlen. Ich habe schnell gemerkt, dass sie nichts für mich sind. Heute habe ich mir den vorerst letzten (vor einer Urlaubspause) Nr. 50 angehört, mit dem Fokus auf die Frage, warum ich nichts damit anfangen kann. Erstens: Sie sind viel zu lang. Nicht, weil ich die Zeit nicht hätte (wie gesagt, meine Arbeit ruht derzeit so ziemlich), aber ich sehe mit Staunen, mit wieviel Redundanz er arbeitet. Vor allem aber stört mich die hochemotionale Schiene, auf der er fährt, diese aufgeladene Sprache, bei der ich mich frage, ob sie eigentlich von niemandem analysiert wird:
„… vielleicht besorgniserregend“, „… möglicherweise noch größer“, „… in eine furchtbare Situation hineinlaufen“, „… wir sehen, wie das Virus wiederkommt“, „… zersetzend für das, was unsere große Kraft gewesen ist“ usw. „Ich bin nicht optimistisch“, sagt er, „dass wir in einem Monat noch so eine friedliche Situation haben wie jetzt, was die Epidemietätigkeit angeht; in zwei Monaten, denke ich, werden wir ein Problem haben, wenn wir nicht jetzt wieder alle Alarmsensoren einschalten.“ Ja, genau das tust Du; fast wollte ich schreiben: Genau das tust Du brav. Dein Leben scheint ein einziges Alarmsensorium zu sein. Aber ist das Lebensqualität? Ängstlich zu Hause zu sitzen und sich Schreckensszenarien zu Gemüte zu führen? Überall „das Virus“ zu vermuten, so dass man schier in Desinfektionsmitteln baden müsste?

Irgendwann (lange vor Corona) las ich, eher zufällig im Netz, dass jemand gestorben ist, den ich beruflich kannte. Ich tippte auf Herzinfarkt oder so etwas, weil ich ihn vage – bin keine Medizinerin – als Blutdruckpatienten einschätzte. Nein, es war ganz anders: Er fiel beim Fotografieren in einen Kanal, in dem er ertrank.
Ja, es ist ein Scheißgedanke, dass wir alle so oder anders enden, ich kriege da hin und wieder genausolche Panikminuten wie Du. Aber sollten wir diesen dauerhaft nachgeben? Ich lebe, natürlich, nicht nach dem Motto „nach mir die Sintflut“, dennoch möchte ich ein gewisses Maß Spaß und Freude am Leben haben. Ich schreibe bekanntlich – damit und darüber. „Ein Mutmach-Text und so passend für diese Zeit“ heißt es in einem Kommentar zu einem Gedicht („Die Leisen“) von mir.

Ja, Mutmach-Texte! Die finde ich wichtig. Du weißt, ich bin in der Kirche, sogar seit bald zwanzig Jahren ehrenamtlich aktiv. Gerade sind Zahlen genannt worden, wie viele Austritte es nun wieder gegeben hat (2019). Im Moment kann ich es leider fast nachvollziehen.
Denn wo bleibt das Mutmachen jetzt? Viele meiner kirchlichen Bekannten empfehlen – ausgerechnet – die Drosten-Podcasts. Sind das die „Predigten“ unserer Zeit? Möchten wir das? Hören, wie ein Schreckensszenario aufgebaut wird, immer wieder, immer neu, „eindeutige Anzeichen, dass das Virus wiederkommt“ – um dann, als Lösung, zu erfahren: „Wir haben es in der Hand!“
Nein, haben wir nicht, liebe Kirche. Geschenkt: Wir rennen nicht zu Fuß über die Autobahn. Wir umarmen nicht stürmisch fremde Menschen. Wir meiden Menschenansammlungen. Wir haben „es“ in der Hand, vorsichtig zu sein.  Das ganze „es“ haben wir allerdings nicht in der Hand. Da gibt es eine größere Hand, mit der wir uns irgendwie verbinden müssen. Auch die Nichtreligiösen müssen es schlussendlich. Vielleicht sollte es heißen: können es, dürfen es.

Das Mutmachen und das Gottvertrauen, beides kommt mir ein wenig zu kurz im Moment. Und gibt es – kirchliche – Stimmen gegen diesen unsäglichen „Immunitätspass“? Ich habe noch keine gehört. Das muss nichts heißen, ich lese aber daraus, dass nichts bei mir ankommt, eine seltsame Schüchternheit oder Verzagtheit. Auch wenn Corona im Alltag jedes Einzelnen unübersehbar wirkt, darf es uns doch nicht so dermaßen beherrschen, dass wir nun ständig nach Sündenböcken suchen: Der hält nicht genug Abstand, die trägt keine Maske, und diese da haben keinen Immunitätspass?
Wo soll es hingehen? Machen wir uns schuldig, allein weil wir existieren und damit ein Nährboden für dieses Virus sein könnten? Und je sichtbarer wir Maßnahmen ergreifen, desto mehr Punkte können wir sammeln? Da wird lauthals kundgetan „Ich bleibe zu Hause!“, „Ich habe die App!“, man fühlt sich gut, ein Portrait mit „Mundnasenschutz“ zu posten, den man bisweilen sogar im Auto trägt, allein; da wird gemahnt und gewarnt.
Manche merken kritisch an, dass es noch nie so viele Virologen gab. Ich meine, es ist noch schlimmer: Es gibt wieder Ablassprediger, große und kleine.

Auf solchen Handel werde ich mich nicht einlassen. Ich sehe an Dir, liebe Freundin, dass die Seele nicht aus dem Feuer springt, selbst wenn man die Maßnahmen sogar strenger als angeraten beherzigt; das Angstfeuer, das „Fegefeuer“ im Hier und Jetzt, brennt weiter. Nein, ich möchte nicht bilanzieren müssen, Monate oder Jahre in Angst und Bangigkeit verbracht zu haben.

„Du hast getan, was du konntest. Den Rest überlass jetzt dem lieben Gott“ – so sprach meine Mutter manchmal zu mir, wenn ich unsicher war. So ein kleiner Satz und so viel Mut und Motivation! Wie schön, dass ich diesen Satz überallhin mitnehmen darf.


Auf das Leben!

Es grüßt Dich (und viele andere, auch aus meinem Freundeskreis)

Deine Marlies




















2 Kommentare:

ilseluise ~ Clownerie und Theologie hat gesagt…

Liebe Marlies,
so ein wunderbarer Brief, der spricht mir aus der Seele.
Frage:
Darf ich den in meinem Blog veröffentlichen?
Wenn ja, was erlaubst Du?

Liebe Grüße aus Vechta, Hiltrud

Marlies Blauth hat gesagt…

Vielleicht ein paar Zitate? Ich glaube nämlich, der vollständige Text gehört nur hierhin.

Gern eine Mail an mich, Adresse steht im Impressum.