Waiting for the Sun
We race down to the sea
Standing there on freedom's
shore
The Doors
Warten. Worauf eigentlich?
„Nun schon anderthalb Jahre“,
höre ich eine Frau in der Straßenbahn sagen, „wie lange denn noch?“ In
ihrer Stimme liegt leise Verzweiflung, keine Ungeduld. Diese ständig aufploppenden
Fragezeichen! Was ist das Ziel, das wir erreichen müssen, um wieder so leben
zu können, wie wir es gewöhnt sind? Hat das eigentlich irgendjemand definiert?
Wir haben gehört „Flatten the curve“, „ … nicht überlasten“, „Wenn ein Impfstoff
da ist“, „Wenn alle ein Angebot haben“, „Wenn die ganze Welt …“.
Ich denke an Aschenputtel. Die
böse Stiefmutter und ihre verhätschelten Töchter gaben dem Mädchen unlösbare
Aufgaben bzw. so viele Linsen, die aus dem Dreck gesammelt werden sollten, dass
sie es nicht schaffen konnte, zum Fest zu erscheinen. Die beiden Täubchen
halfen jedoch. In Grimms Fassung von 1812 heißt es: „Als die Schwestern am
nächsten Tag die gelesenen Linsen sehen und hören, dass Aschenputtel ihnen –
auf dem Fest, M. B. – zusah, lassen sie den Taubenschlag abreißen.“
(nachzulesen bei Wikipedia) Ja.
Vielleicht warten wir auf ein Wunder, hilfreiche Wesen aus dem Nichts, irgendetwas, für das man keine Worte hat. Ist das schon Glauben? Oder einfach nur naiv?
Ich fühle mich hilf-los, weil das Hilfreiche nicht in Sicht ist. Nichts ist in Sicht. Und sprechen können wir auch nicht. Unterwegs haben wir vielfach Masken um, und die Wörter scheinen genauso maskiert. Die viel beschworene Solidarität mündet in ihr Gegenteil, in schier babylonische Sprachverwirrung: Wir verstehen einander nicht mehr. Wörter, die wir scheinbar kennen, sind längst umgewidmet und bedeuten mitunter das Gegenteil von dem, was sie an der Oberfläche sagen. Das Innenleben, lange eingekapselt, quillt nach außen wie bösartige Lava. Was ist gültig? Wir reden aneinander vorbei. Unsere Mimik ist versteckt, die Mimik der Worte ist es auch. Oft schweigen wir, wenn es etwas zu sagen gäbe. Wir überlegen, ob wir mutig sein dürfen. Ob der Mut am Ende vielleicht missmutig macht. So haben wir Geheimnisse. Wir tragen sie, vorsichtig, wie eine Windjacke mit Bleiglöckchen, wie ich in einem Gedicht schrieb. Falsche Wörter sind zur Zeit anders-falsch als noch vor zwei Jahren, sie sprengen den Rahmen, lassen uns aus dem Rahmen fallen. Also halten wir still, warten wir still – und wissen nicht, worauf genau. Denn das Leben, das wir „von früher“ kennen, kommt angeblich ohnehin nicht wieder.
So ähnlich wird es sein, im Altenheim zu leben … und zu warten.
Marlies
Blauth | im August 2021
Text und Bild © Marlies Blauth
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