Montag, 30. August 2021

#Menschen Tagebuch | 4

 





Waiting for the Sun

 

We race down to the sea

Standing there on freedom's shore

 

The Doors

 

 

 

Warten. Worauf eigentlich?

„Nun schon anderthalb Jahre“, höre ich eine Frau in der Straßenbahn sagen, „wie lange denn noch?“ In ihrer Stimme liegt leise Verzweiflung, keine Ungeduld. Diese ständig aufploppenden Fragezeichen! Was ist das Ziel, das wir erreichen müssen, um wieder so leben zu können, wie wir es gewöhnt sind? Hat das eigentlich irgendjemand definiert? Wir haben gehört „Flatten the curve“, „ … nicht überlasten“, „Wenn ein Impfstoff da ist“, „Wenn alle ein Angebot haben“, „Wenn die ganze Welt …“.

Ich denke an Aschenputtel. Die böse Stiefmutter und ihre verhätschelten Töchter gaben dem Mädchen unlösbare Aufgaben bzw. so viele Linsen, die aus dem Dreck gesammelt werden sollten, dass sie es nicht schaffen konnte, zum Fest zu erscheinen. Die beiden Täubchen halfen jedoch. In Grimms Fassung von 1812 heißt es: „Als die Schwestern am nächsten Tag die gelesenen Linsen sehen und hören, dass Aschenputtel ihnen – auf dem Fest, M. B. – zusah, lassen sie den Taubenschlag abreißen.“ (nachzulesen bei Wikipedia) Ja.

Vielleicht warten wir auf ein Wunder, hilfreiche Wesen aus dem Nichts, irgendetwas, für das man keine Worte hat. Ist das schon Glauben? Oder einfach nur naiv?

Ich fühle mich hilf-los, weil das Hilfreiche nicht in Sicht ist. Nichts ist in Sicht. Und sprechen können wir auch nicht. Unterwegs haben wir vielfach Masken um, und die Wörter scheinen genauso maskiert. Die viel beschworene Solidarität mündet in ihr Gegenteil, in schier babylonische Sprachverwirrung: Wir verstehen einander nicht mehr. Wörter, die wir scheinbar kennen, sind längst umgewidmet und bedeuten mitunter das Gegenteil von dem, was sie an der Oberfläche sagen. Das Innenleben, lange eingekapselt, quillt nach außen wie bösartige Lava. Was ist gültig? Wir reden aneinander vorbei. Unsere Mimik ist versteckt, die Mimik der Worte ist es auch. Oft schweigen wir, wenn es etwas zu sagen gäbe. Wir überlegen, ob wir mutig sein dürfen. Ob der Mut am Ende vielleicht missmutig macht. So haben wir Geheimnisse. Wir tragen sie, vorsichtig, wie eine Windjacke mit Bleiglöckchen, wie ich in einem Gedicht schrieb. Falsche Wörter sind zur Zeit anders-falsch als noch vor zwei Jahren, sie sprengen den Rahmen, lassen uns aus dem Rahmen fallen. Also halten wir still, warten wir still – und wissen nicht, worauf genau. Denn das Leben, das wir „von früher“ kennen, kommt angeblich ohnehin nicht wieder.

So ähnlich wird es sein, im Altenheim zu leben … und zu warten.

 

 


Marlies Blauth | im August 2021

Text und Bild © Marlies Blauth






 


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