Mittags in Syburg
Diesmal fahre ich zu einem Lieblingsort, der sich allerdings schon
immer durch Abwesenheit von Kohlestaub auszeichnete: Dortmund-Syburg, ganz im
Süden. Dort gibt es eine uralte Kirche mit Friedhof, einen „wundertätigen“
Brunnen, eine Burgruine, ein (Aussichts-)Turm aus dem 19. Jahrhundert, ein Kaiser
Wilhelm-Denkmal und eine Spielbank.
Ich verlasse die Innenstadt mit dem Bus, das Urbane wandelt sich zu Wohngebieten,
die Wohngebiete werden weniger dicht, wir fahren durch Wald. An den letzten
Stationen sitze ich ganz allein in dem riesigen Gelenkbus und komme mir vor wie
in einem überdimensionierten Taxi.
Die Endstation zeichnet sich durch menschenleere Ruhe aus, und ich kann
nachvollziehen, warum früher für mich ein Ausflug (hieß bei uns: Wanderung hin und zurück, insgesamt etwa 15 km) nach Syburg immer war wie ein
Urlaubstag: eine andere Welt, zumal damals, als die Stadt noch grau war und man das Stahlwerk noch hörte. Hier
stehen alte Häuser, gemauert aus Bruchsteinen. Nie erschienen sie mir wirklich
freundlich, irgendwie strahlen sie etwas Hermetisches aus, aber herb-romantisch,
ja, das sind sie.
Ich laufe die Syburger Kirchstraße entlang, die erst ein Stück abwärts
führt und dann wieder aufwärts. Ja, hier beginnt das Sauerland, man konnte die
hügelige Landschaft schon während der Busfahrt empfinden und in die Weite aufs
Mittelgebirge schauen.
Nun komme ich am „Klösterchen“ vorbei, einem Fachwerkhaus, in dem
vermutlich früher Pilger beherbergt wurden. Es soll das älteste (Wohn-)Haus in
Syburg sein. Rechts daneben der rätselhafte Brunnen, wegen dessen
Wundertätigkeit die Pilger wohl kamen. Aber in der modernen Zeit braucht man
keine Wunder mehr, der Brunnen scheint nicht mehr zu fließen (soll er nicht,
kann er nicht?), jedenfalls sieht man nur noch einen eigenartigen Verschlag, in
dem auch Gartengeräte untergebracht sein könnten. Mir fällt die Geschichte ein,
als im 13. Jahrhundert ein Großteil der Dortmunder Bürger nach Syburg pilgerte – und von da aus
mit ansehen musste, wie ihre Stadt einem verheerenden Brand zum Opfer fiel.
Es geht weiter aufwärts zur Peterskirche, vorbei an alten Gärten
mit Stockrosen, Brombeerhecken und Obstbäumen, Spätsommerdüften. Die Kirche
selbst strahlt eine Kargheit aus, die zu mahnen scheint, man solle sich aufs
Allerwesentliche konzentrieren. Der klotzige, wehrhafte Turm lässt erahnen, dass es
in früheren Zeiten tagtäglich existentielle Probleme für die Menschen gegeben
hat. Aktuell lässt uns Corona ein Stück davon nachempfinden.
Hier gibt es keine Blumenrabatten oder andere liebliche Details, nur Grasflächen mit zahlreichen uralten Grabsteinen. Teilweise
tragen sie eingemeißelte Totenschädel mit gekreuzten Knochen, man hört das Memento
mori der Renaissancezeit klingen, in der sogar dargestellte Musikinstrumente
oder Blumen ein unzweifelhafter Hinweis auf die Vergänglichkeit waren. Aus dieser
Zeit stammen die Grabsteine auch.
Auffallend viele Engel sind zu sehen, aber hier sind sie alles andere als
putzig, eher skurril; man weiß nicht, ob man sie humorvoll auffassen soll oder
auch wieder als mahnende Wesen.
Die Kirche ist, wie immer, geschlossen. Ich atme die herbe Luft draußen;
man hat das Gefühl, die verwitternden steinernen Zeugen werden zu Sand, der
einem ins Gesicht weht. Das Tor zu Friedhof und Kirche war einladend geöffnet,
aber hier ist nichts, was zum Verweilen auffordert, keine Bank. Man kann nur durch
die Grabreihen schreiten und diesen „Kraftort“ spüren. Früher kannte
ich diesen etwas modischen Begriff nicht, aber dass hier eine eigenartige
Energie wirksam ist, merkte ich auch da.
Da es keine Sitzgelegenheit an diesem doch so besonderen Ort gibt, man
aber auch nicht ständig Runden drehen oder blöd herumstehen will, verlasse ich
ihn bald wieder. Ich fühle mich einerseits wie herauskatapultiert und spüre
andererseits den Wunsch, noch etwas zu bleiben. Wieder einmal diese ständige
Ambivalenz des Ruhrgebiets, nur hier eine ganz spezielle.
Ich laufe weiter nach oben, zur Burgruine Hohensyburg. Angeblich soll
hier, an der Sigiburg, Karl der Große die Sachsen besiegt haben. Es gibt aber
wohl auch andere Stellen, die das für sich in Anspruch nehmen.
An der Spielbank komme ich vorbei, aber die ist nicht wichtig für mich.
Sehe einen etwas sonderbar platzierten Ziehbrunnen, den man wohl auf einem
Bauernhof vorgefunden und hier hingestellt hat. Schade, dass hier so gar nichts
sprudelt, wo es doch mehrere Quellen geben soll. Vielleicht hätte ich gern das
Sinnbild für Kreativität, also sprudelnde Ideen, vor mir – wer weiß.
Menschen treffe ich kaum, und allein durch die Burgruine zu stapfen,
empfinde ich fast als gruselig. Aber hier ist es licht und sonnig, und der Blick
von oben auf Ruhr und Lenne ist wunderschön. Und man sieht die Berge im Dunst
verblauen; wieder einmal „verstehe“ ich meine Bilder. Hier war alles immer genau so wie jetzt,
und für Landschaften war ich auch als Kind schon empfänglich. Diese Bilder sind
abgespeichert in meinem Kopf.
Durch die Parklandschaft verlasse ich die wilde Burg. Sie hätte ich immer
schon gern „ganz“ gesehen, am besten mit der kompletten Ausstattung.
Ruinenromantik ist nicht so meine Sache; vielleicht auch hier Memento mori,
und zwar zuviel.
Da ich schon lange unterwegs bin – ich wohne ja schon lange nicht mehr in
Dortmund, sondern am Rhein –, habe ich Hunger bekommen.
Im Restaurant „Alt Syburg“, so wird man an der Kirche informiert, kann
man sich einen Pilgerstempel abholen. Zwar bin ich nicht so ganz richtig
gepilgert, aber ich war an allen wichtigen Stätten und meine, dass ich dieses
Souvenir also verdient habe. Ganz zeitgemäß bekomme ich es später digital
zugeschickt, da nur der Restaurantchef weiß, in welcher Schublade sich der Stempel
befindet, er aber während meines Mittagessens nicht hier ist.
Ich bestelle mir einen Matjesteller und einen Kaffee, sitze draußen und
genieße die Atmosphäre. Es sind nun mehr Menschen in Syburg angekommen, sie laufen teils
mit Wanderstöcken an mir vorbei und grüßen mich so, als würden sie mich kennen.
Mancher wünscht mir sogar einen guten Appetit. Auch meine Nebentische werden
besetzt, ich staune darüber, wie schnell die sich fremden Gäste in Kontakt
kommen und sich bei einer Wohnungssuche behilflich sein wollen. So etwas
verbindet man mit den „sturen Westfalen“ ja eher nicht … ich als Neu-Rheinländerin
habe wohl vergessen, dass sie gar nicht stur sind –
sondern oftmals ganz herzlich; man muss nur genau hinschauen und -hören.
sondern oftmals ganz herzlich; man muss nur genau hinschauen und -hören.
Marlies
Blauth | 31. August 2020
Text und
Fotos © Marlies Blauth
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