Heinz Schumacher
Zwischen Emscher und Paschenberg
Miniaturen aus einer Kindheit und Jugend im Ruhrgebiet
Athena Verlag Oberhausen
1. Auflage 2020, 164 Seiten, 18,50 €
ISBN 978-3-7455-1091-1
Diese immer wiederkehrende Scheu, Ich zu sagen. Eine Rezension.
Sofort fühle ich mich zu Hause. Diese Sprache! Nein, kein Ruhrdeutsch;
ein paar wenige typische Begriffe sind in Anführungszeichen gesetzt. Das, was
ich meine, geht tiefer: Heinz Schumacher spricht eine schlichte Sprache, die an
manchen Stellen sogar etwas ungelenk wirkt, weil sie diesen eigenartigen Drang
zur Sachlichkeit hat; sie distanziert sich so deutlich vom Ich und seinen Gefühlen,
dass ich meine Mutter wie zur Bestätigung sagen höre „Nimm dich selbst nicht so wichtig!“ Aber
auch, fast im selben Atemzug: „Erzähl doch mal!“. Erzähl doch mal, nur bitte
nicht zu ausladend und vor allem ohne Schnörkel; geradeaus, ohne Übertreibung.
Und: hab Verständnis; niemand kann aus seiner Haut.
So wuchsen wir auf: Schumacher ist etwas älter als ich, aber mit sechs
Jahren Altersunterschied gehören wir noch zu einer Generation. Offenbar waren
wir beide empfindsame Kinder, die sich in einer rauen, auch pädagogisch rauen,
Umgebung zurechtfinden mussten. Die Wünsche der Kinder kamen meistens zuletzt
dran, wenn überhaupt. Eben: Nimm dich nicht so wichtig.
„Diese immer wiederkehrende Scheu, Ich zu sagen“, erwähnt der Autor an
einer Stelle. Ja, sie wurde uns gleichsam eingetrichtert. Aber das war nicht
nur „schwarze“ Pädagogik; im alten Ruhrgebiet war diese Haltung einfach verbreitet.
Ein typischer Dialog: „Magst du Vollkornbrot?“ – „Och, weniger!“. Heißt: Nein, mag
ich überhaupt nicht, geh mir weg damit! – Aber das sagt man so nicht. Abgesehen
davon, dass es in der Nachkriegszeit (oder bei mir: Nach-Nachkriegszeit)
ohnehin nicht gestattet war, zu ungeliebtem Essen „Iiiiih“ und „Bääääh“ zu
sagen, wurden solche Gefühlsausbrüche allgemein abgelehnt, wenn nicht, wie im
Buch mehrfach angesprochen, eine bierselige Stimmung solche Gesetzmäßigkeiten
ausnahmsweise, dem Feierabend geschuldet, unterhöhlte. Ansonsten war die
Atmosphäre von einer Zurückhaltung und Redlichkeit geprägt, wie ich sie später selten
wiedergefunden habe.
Das unterstrich natürlich die Enge, in der wir aufwuchsen, räumliche Enge
und auch Engstirnigkeit. Beides fühlt man beim Lesen des Buches fast
schmerzhaft. Aber man sieht immer auch Auswege, die zur einer gewissen Behaglichkeit
und Zufriedenheit führen: Der Garten als Zufluchtsort, als Gegensatz zur viel
zu kleinen Wohnung ohne jeden Komfort; der eigentlich patriarchalische Vater,
der in wunderbarem Vater-Sohn-Einvernehmen Drachen baut oder den Zauber einer Bibliothek
vermitteln kann.
Die Enge unserer Kindheitswelt besaß natürlich nicht nur Nachteile: Sie machte
auch übersichtlich. Regeln waren bisweilen unbequem, die Strenge, mit denen sie
durchgesetzt wurden, befremdet uns heute; doch ihre Verbindlichkeit konnte den
Alltag durchaus erleichtern, zumal dann, wenn man zu einer Distanzlosigkeit verdammt
war, die man sich heute kaum noch vorstellen kann. Wenn eine Toilette „auf
halber Treppe“ von nur einer Familie benutzt werden konnte und nicht von der
ganzen Etage, war das schon ein kleiner Schritt in den Luxus. Und es dauerte
noch viele Jahre, bis im Kinderzimmer keine Etagenbetten mehr aufgestellt waren,
sondern jedes Kind einen eigenen Raum erhielt. Sehr schön, wie Schumacher die
ersten Anklänge des Wohlstands einfängt: Völlereien mit Buttercreme,
Sahnebergen und „Kaltem Hund“. Mein Vater, eigentlich ein dünnes „Gestell“,
legte damals genauso zu wie alle anderen; der Autor schildert es treffend. Und eben nie be- oder verurteilend; wer lange so hungrig war, dass er zu
dünn ist für die Kleidung, die es zu kaufen gibt, freut sich über jede
Gelegenheit, endlich wieder richtig satt zu werden. Ja, ich erinnere mich, „zu
dünn“ zu sein, war damals ein Makel: Die Hungerzeiten haben wir doch hinter uns.
Die Geschäfte waren so nah, dass man „kurz hinspringen“ konnte, sie hießen
noch kaum Rewe, Aldi, Netto oder Saturn, sondern hatten Namen wie du und ich.
Schumacher legt den Fokus vor allem auf die Menschen(typen) in den Läden: schrullig,
freundlich, angsteinflößend, unkonventionell, wohlwollend – sogar der Leiter
der Stadtbücherei wird zu Jemandem, den man durch das Buch kurz kennen lernen
darf und zu mögen beginnt.
Mit wie viel Verständnis der Autor fast allen Menschen in seinem
Rückblick begegnet! Deren Fauxpas muss schon sehr groß sein, dass er darauf verzichtet.
Ja, und ich fühle es mit, wenn er seinen Vater, der sich
bisweilen als Machthaber der Familie aufspielt, voller Hochachtung schildert,
wenn der sich später, im Alter, rührend um seine pflegebedürftige Frau kümmert
und nicht davor zurückscheut, jene Arbeiten zu verrichten, die lange als „unmännlich“
galten.
Genau diese immer wieder anklingende Achtsamkeit ist es, von der ich
heute noch zehre. Nur hatte man diesen Begriff noch nicht dafür; wenn sich die
Jungen meiner Klasse prügelten, rief irgendwann jemand: Stopp! Zwei auf einen, unfair!, und das Kämpfchen war wirklich zu Ende. Oder sonst: Tu dem nix (das rettete oft auch einen Käfer oder eine Schnecke).
Bei all dem Bemühen, bloß nicht zu emotional zu werden beim Erzählen,
lieber so sachlich-dokumentierend zu formulieren wie möglich, bleiben die liebevollen
Zwischentöne eben nicht verborgen. Man muss nur genau hinhören oder es hier,
wie kann man das sagen, mit „Ruhrgebiets-Erfahrung“ lesen. Manchmal scheint
Herzblut durch, ganz zaghaft, aber wie nachhaltig!
Ich erinnere mich an den Tonfall, den man leider nicht schriftlich
wiedergeben kann, wenn die rau und hart scheinenden Menschen voller Feinfühligkeit
und Wehmut „Tüsken!“ sagten … ein kleines Wort nur, in dem, wenn es ausgesprochen
wird, so viel wohnt: Ich lass dich jetzt gar nicht gern gehen (auch wenn ich
viel zu arbeiten hab‘), machs gut!
Schumacher hat längst tschüs gesagt, er verklärt nichts, bei aller Liebe
nicht. Nichts möchte er zurückhaben, ebensowenig wie ich. Aber der Blick zurück
zeigt unsere Wurzeln auf, die wir mit einigen Millionen Menschen teilen.
Das Ruhrgebiet war und ist ein Ballungsgebiet … auch ein Ballungsgebiet
der Widersprüchlichkeiten. Es ist schön, wieder einmal daran erinnert zu werden.
Vielleicht ist die Antwort eine ganz einfache, dass nämlich zu schreiben auch eine Art zu leben darstellt [...] um sein* Leben in eine Geschichte zu gießen, die ihm Sinn verleiht. Ja, so ähnlich hätte ich es meiner Mutter wohl auch erklärt. Ab und zu muss man eben einfach mal Ich sagen können. Ohne zu übertreiben, selbstverständlich.
* im Originalzitat heißt es ihr/ Plural.
Marlies
Blauth | 29. August 2020
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