Samstag, 29. August 2020

#Kohlestaub Tagebuch | 3













Heinz Schumacher

Zwischen Emscher und Paschenberg
Miniaturen aus einer Kindheit und Jugend im Ruhrgebiet

Athena Verlag Oberhausen 
1. Auflage 2020, 164 Seiten, 18,50 €
ISBN 978-3-7455-1091-1



Diese immer wiederkehrende Scheu, Ich zu sagen. Eine Rezension.


Sofort fühle ich mich zu Hause. Diese Sprache! Nein, kein Ruhrdeutsch; ein paar wenige typische Begriffe sind in Anführungszeichen gesetzt. Das, was ich meine, geht tiefer: Heinz Schumacher spricht eine schlichte Sprache, die an manchen Stellen sogar etwas ungelenk wirkt, weil sie diesen eigenartigen Drang zur Sachlichkeit hat; sie distanziert sich so deutlich vom Ich und seinen Gefühlen, dass ich meine Mutter wie zur Bestätigung sagen höre „Nimm dich selbst nicht so wichtig!“ Aber auch, fast im selben Atemzug: „Erzähl doch mal!“. Erzähl doch mal, nur bitte nicht zu ausladend und vor allem ohne Schnörkel; geradeaus, ohne Übertreibung. Und: hab Verständnis; niemand kann aus seiner Haut.
So wuchsen wir auf: Schumacher ist etwas älter als ich, aber mit sechs Jahren Altersunterschied gehören wir noch zu einer Generation. Offenbar waren wir beide empfindsame Kinder, die sich in einer rauen, auch pädagogisch rauen, Umgebung zurechtfinden mussten. Die Wünsche der Kinder kamen meistens zuletzt dran, wenn überhaupt. Eben: Nimm dich nicht so wichtig.

„Diese immer wiederkehrende Scheu, Ich zu sagen“, erwähnt der Autor an einer Stelle. Ja, sie wurde uns gleichsam eingetrichtert. Aber das war nicht nur „schwarze“ Pädagogik; im alten Ruhrgebiet war diese Haltung einfach verbreitet. Ein typischer Dialog: „Magst du Vollkornbrot?“ – „Och, weniger!“. Heißt: Nein, mag ich überhaupt nicht, geh mir weg damit! – Aber das sagt man so nicht. Abgesehen davon, dass es in der Nachkriegszeit (oder bei mir: Nach-Nachkriegszeit) ohnehin nicht gestattet war, zu ungeliebtem Essen „Iiiiih“ und „Bääääh“ zu sagen, wurden solche Gefühlsausbrüche allgemein abgelehnt, wenn nicht, wie im Buch mehrfach angesprochen, eine bierselige Stimmung solche Gesetzmäßigkeiten ausnahmsweise, dem Feierabend geschuldet, unterhöhlte. Ansonsten war die Atmosphäre von einer Zurückhaltung und Redlichkeit geprägt, wie ich sie später selten wiedergefunden habe.
Das unterstrich natürlich die Enge, in der wir aufwuchsen, räumliche Enge und auch Engstirnigkeit. Beides fühlt man beim Lesen des Buches fast schmerzhaft. Aber man sieht immer auch Auswege, die zur einer gewissen Behaglichkeit und Zufriedenheit führen: Der Garten als Zufluchtsort, als Gegensatz zur viel zu kleinen Wohnung ohne jeden Komfort; der eigentlich patriarchalische Vater, der in wunderbarem Vater-Sohn-Einvernehmen Drachen baut oder den Zauber einer Bibliothek vermitteln kann.
Die Enge unserer Kindheitswelt besaß natürlich nicht nur Nachteile: Sie machte auch übersichtlich. Regeln waren bisweilen unbequem, die Strenge, mit denen sie durchgesetzt wurden, befremdet uns heute; doch ihre Verbindlichkeit konnte den Alltag durchaus erleichtern, zumal dann, wenn man zu einer Distanzlosigkeit verdammt war, die man sich heute kaum noch vorstellen kann. Wenn eine Toilette „auf halber Treppe“ von nur einer Familie benutzt werden konnte und nicht von der ganzen Etage, war das schon ein kleiner Schritt in den Luxus. Und es dauerte noch viele Jahre, bis im Kinderzimmer keine Etagenbetten mehr aufgestellt waren, sondern jedes Kind einen eigenen Raum erhielt. Sehr schön, wie Schumacher die ersten Anklänge des Wohlstands einfängt: Völlereien mit Buttercreme, Sahnebergen und „Kaltem Hund“. Mein Vater, eigentlich ein dünnes „Gestell“, legte damals genauso zu wie alle anderen; der Autor schildert es treffend. Und eben nie be- oder verurteilend; wer lange so hungrig war, dass er zu dünn ist für die Kleidung, die es zu kaufen gibt, freut sich über jede Gelegenheit, endlich wieder richtig satt zu werden. Ja, ich erinnere mich, „zu dünn“ zu sein, war damals ein Makel: Die Hungerzeiten haben wir doch hinter uns.

Die Geschäfte waren so nah, dass man „kurz hinspringen“ konnte, sie hießen noch kaum Rewe, Aldi, Netto oder Saturn, sondern hatten Namen wie du und ich. Schumacher legt den Fokus vor allem auf die Menschen(typen) in den Läden: schrullig, freundlich, angsteinflößend, unkonventionell, wohlwollend – sogar der Leiter der Stadtbücherei wird zu Jemandem, den man durch das Buch kurz kennen lernen darf und zu mögen beginnt.
Mit wie viel Verständnis der Autor fast allen Menschen in seinem Rückblick begegnet! Deren Fauxpas muss schon sehr groß sein, dass er darauf verzichtet. Ja, und ich fühle es mit, wenn er seinen Vater, der sich bisweilen als Machthaber der Familie aufspielt, voller Hochachtung schildert, wenn der sich später, im Alter, rührend um seine pflegebedürftige Frau kümmert und nicht davor zurückscheut, jene Arbeiten zu verrichten, die lange als „unmännlich“ galten. 

Genau diese immer wieder anklingende Achtsamkeit ist es, von der ich heute noch zehre. Nur hatte man diesen Begriff noch nicht dafür; wenn sich die Jungen meiner Klasse prügelten, rief irgendwann jemand: Stopp! Zwei auf einen, unfair!, und das Kämpfchen war wirklich zu Ende. Oder sonst: Tu dem nix (das rettete oft auch einen Käfer oder eine Schnecke).
Bei all dem Bemühen, bloß nicht zu emotional zu werden beim Erzählen, lieber so sachlich-dokumentierend zu formulieren wie möglich, bleiben die liebevollen Zwischentöne eben nicht verborgen. Man muss nur genau hinhören oder es hier, wie kann man das sagen, mit „Ruhrgebiets-Erfahrung“ lesen. Manchmal scheint Herzblut durch, ganz zaghaft, aber wie nachhaltig!
Ich erinnere mich an den Tonfall, den man leider nicht schriftlich wiedergeben kann, wenn die rau und hart scheinenden Menschen voller Feinfühligkeit und Wehmut „Tüsken!“ sagten … ein kleines Wort nur, in dem, wenn es ausgesprochen wird, so viel wohnt: Ich lass dich jetzt gar nicht gern gehen (auch wenn ich viel zu arbeiten hab‘), machs gut!

Schumacher hat längst tschüs gesagt, er verklärt nichts, bei aller Liebe nicht. Nichts möchte er zurückhaben, ebensowenig wie ich. Aber der Blick zurück zeigt unsere Wurzeln auf, die wir mit einigen Millionen Menschen teilen.

Das Ruhrgebiet war und ist ein Ballungsgebiet … auch ein Ballungsgebiet der Widersprüchlichkeiten. Es ist schön, wieder einmal daran erinnert zu werden.

Vielleicht ist die Antwort eine ganz einfache, dass nämlich zu schreiben auch eine Art zu leben darstellt [...] um sein* Leben in eine Geschichte zu gießen, die ihm Sinn verleiht. Ja, so ähnlich hätte ich es meiner Mutter wohl auch erklärt. Ab und zu muss man eben einfach mal Ich sagen können. Ohne zu übertreiben, selbstverständlich.


* im Originalzitat heißt es ihr/ Plural.


Marlies Blauth | 29. August 2020










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