Diesen Klängen folgen
Heute Probelesen / Generalprobe für die Museumsnacht ’20 in der
Stadtkirche St. Petri in Dortmund.
Die DB-Hauptstrecke dahin ist gesperrt, also fahre ich auf einer
Nebenstrecke durch das nördliche Ruhrgebiet, was ich immer schon vorhatte.
Nördliches Ruhrgebiet
im Spätsommerlicht
Manche Häuser tragen noch
ihre grauen Mäntel von damals
während die weiß gewandeten
ungewohnt leuchten
Die Natur berauscht sich
an vergessenen Mauern
verschlingt sogar die Graffiti
wie schön
Grund der Sperrung sind die Folgen eines Tanklaster-Unfalls, durch den
zumindest eine von mehreren Eisenbahnbrücken so stark beschädigt wurde, dass
sie abgerissen werden muss. Der Fahrer hatte die Kontrolle verloren, der Laster
ging unter den Brücken in Flammen auf.
„Der war sprittig“, sagt einer im Zug – wieder ein Beispiel dafür, mit wie wenig Silben man im Ruhrgebiet auskommen kann. Ich sage dasselbe mit spitzer Schnute, so wie es in der Zeitung steht: Der Fahrer hatte Alkohol getrunken.
Als mein Gegenüber aussteigt, irgendwo bei Herne, sagt er: „Tüss, gezz gehtet inne Bronx“. Ich mag diese Art Humor, so kurz und trocken; so ist das eben(t), wenn man damit aufgewachsen ist: Emotionen sind nur portiönchenweise zugelassen.
So richtig will es nicht passen, dass ich in dieser Atmosphäre einige
Gedichtfragmente bearbeite. Andererseits macht mich die lebhafte Stimmung, die
hier aufkommt, selbst lebendig, ich fühle mich inspiriert. Anscheinend lassen
sich die Menschen durch ihre verordneten Masken nicht mehr bremsen und reden
einfach, so wie früher – wobei ich mich frage, ob es virologisch günstig ist,
durch eine Maske Dauergespräche zu führen. Allerdings sollte man sich einem
Schweigegebot nur freiwillig unterwerfen; der Mensch ist zum Dauerschweigen
prinzipiell nicht geschaffen. „Dat neue Stellwerk kannze wegschmeißen, bis dass
die Brücke fertig ist, dauertes Jahre“, höre ich noch und habe beinahe Mitleid
mit dem angetrunkenen Fahrer, denn die Schäden seiner Verfehlung gehen ins
Unermessliche. Scheinbar kleine Ursache … mit monströsen Folgen.
Ich habe noch etwas Zeit bis zur Probelesung und beschließe, mir eine
Ausstellung in der BIG-Galerie anzusehen; doch wegen Corona muss ich, wie alle
anderen Interessierten, draußen bleiben. Das ist umso deprimierender, als man
durch die Fenster erkennen kann, dass da im Galerieraum eine Ausstellung
installiert ist. Arme KollegInnen. Immer wieder macht Corona einen Strich durch
die Rechnung, wieviel Planung und Arbeit haben wir alle nun schon in Projekte
gesteckt, die dann nur „halb“ oder gar nicht stattfinden können.
Ein Second-Hand-Laden ist ebenfalls geschlossen. Ich steuere „den
Kaufhof“ an, weil ich nach einem Küchengerät schauen will; er wird bald für immer aufgegeben und ist daher zu einer gruseligen Resterampe mutiert. Die Riesenräume
sind schon halb leer, die Waren, einst schön ordentlich präsentiert, sind nun
ohne Sinn und Verstand zusammengeschoben. Ein Haus, das ich noch aus
Kindertagen kenne … so schade. Ich verfluche die Internetkäufe. Für bestimmte
Dinge, zum Beispiel Ersatzteile, finde ich sie sinnvoll, aber ansonsten bin ich
lieber old-school und mag Schuhe lieber rechtzeitig anprobieren und Materialien
sehen und anfassen, bevor ich etwas kaufe.
Direkt gegenüber befindet sich die Petrikirche. „Was für eine leere
Kirche“, sagt ein Kollege. Ja, sie ist nüchtern (obwohl sie ja nicht leer ist:
Es stehen einige Heilige herum), wäre da nicht das „Goldene Wunder von
Westfalen“, dieses Meer aus Gold, der lichtgleißende Altar aus Antwerpen,
gefertigt in der Reformationszeit (und, jede Wette, davor noch in Auftrag
gegeben).
Heute zeigt dieser Altar allerdings nur eine seiner bescheideneren Ansichten – mit Malerei. Auch schön, doch die strahlt nicht dermaßen intensiv in den farblos-lichten Kirchenraum.
Nun stehe ich vorn im Altarraum und staune über die ungewohnte Perspektive, wie immer, wenn ich in Kirchen lese.
Wir alle müssen beim Vortragen mit dem heftigen Nachhall des Raums
zurechtkommen und so langsam lesen, dass wir das Programm kürzen müssen. Meinen
Part lese ich fast verzagt, denn ich höre sicher ganz andere Nuancen als das
Publikum, das heute aber ja noch nicht da ist und nur aus einzelnen
herumwandernden Leuten von uns besteht. Interessant ist wahrzunehmen, wie der
Kontext des Ortes die Texte verändert; wir hatten sie ja schon 2019 auf dem
Kirchentag gelesen, in zwei verschiedenen Räumen, aber nicht hier; die
mittelalterliche Kirche scheint nun mitzusprechen, ja regelrecht
hineinzufunken.
Unsere Texte befassen sich mit Orten in Dortmund. Über einigen scheint „mein“ Kohlestaub zu liegen, andere entsprechen dem Ruhrgebiet der Gegenwart. Nur in dieser Stadt kann man sie lesen, woanders werden sie wohl kaum verstanden.
Wir fragen uns, wie viele der Stühle, die angeordnet sind, wie Kinder Straßenbahn
spielen, morgen besetzt sein werden. Corona bestimmt bis in die letzten Ecken
auch die Ästhetik, von geklebten Abstandhaltern, gebastelten Wegweisern über
Plexiglas-Barrieren bis hin zu kruden Sitzordnungen. Auch die neuen
Anmelde-Rituale nehmen viel Einfluss; spontane Entscheidungen gibt es so gut
wie nicht mehr, hier müssen digital Tickets gebucht werden – eine Barriere, die
es vor kurzem noch nicht gab, zumindest bei diesen „kleineren“ Veranstaltungen
nicht. Vielleicht sind wir mit sechs Lesenden morgen die Mehrheit, wer weiß. Aber
alle sind sich einig: Egal, wie es wird, wir haben gern zugesagt.
Wir gehen noch ein Bier trinken, in einem Biergarten im Westpark. Dort
war ich das letzte Mal als Achtzehnjährige, ich staune über den schönen Park
mitten in der Stadt.
Meine Pommes frites muss ich mir mitgeben lassen, die Brutzelei dauert einfach
viel zu lange, wegen der Bahnstreckensperrung möchte ich nach Hause aufbrechen.
So esse ich die Pommes im Gehen, ich glaube, das habe ich zuletzt als
Jugendliche gemacht. Ja, ja, und im Schatten der Liebfrauenkirche, an der ich
nun essend vorbeikomme, habe ich damals – ungern – eine Zigarre geraucht, die
wurde mir während eines Gemeindefestes angedreht von dem Freund meines
Freundes. Heute wäre das aus zweifachen Gründen nicht mehr möglich: Es gibt (zum Glück) keine Zigarren mehr auf Kirchenfesten zu kaufen, und die
Liebfrauenkirche feiert solche Feste überhaupt gar nicht mehr; sie ist seit einigen
Jahren Kolumbarium, Grabeskirche, ohne Gemeinde.
Das Pommes-Schälchen ist geleert, ich laufe schnurstracks zum Bahnhof.
Morgen the same procedure oder jedenfalls eine ganz ähnliche.
Zu Hause wartet eine riesige Sendung mit Kunstmaterial … dem Stipendium sei
Dank.
Marlies Blauth | 18. September 2020
Nachtrag: Die Corona-Hürden sind hoch, es kommt, wie wir befürchtet haben: ausgesprochen wenig Besuch. Schade.
Aber so problematisch die Akustik des Raums für die Lesenden sein mag, so
freundlich lässt sie den Applaus auch von Wenigen donnern – man kann regelrecht
drin baden. Und wir bekommen auch verbal sehr gute Reaktionen. Deswegen, trotz
Corona / wegen Corona: Es hat Spaß gemacht, und wir freuen uns riesig über eine
erneute Einladung für das Jahr 2021.
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