Sonntag, 20. September 2020

#Kohlestaub Tagebuch | 6

 


Diesen Klängen folgen


Heute Probelesen / Generalprobe für die Museumsnacht ’20 in der Stadtkirche St. Petri in Dortmund.

Die DB-Hauptstrecke dahin ist gesperrt, also fahre ich auf einer Nebenstrecke durch das nördliche Ruhrgebiet, was ich immer schon vorhatte.

 

 




Nördliches Ruhrgebiet

im Spätsommerlicht

 

Manche Häuser tragen noch

ihre grauen Mäntel von damals

während die weiß gewandeten

ungewohnt leuchten

 

Die Natur berauscht sich

an vergessenen Mauern

verschlingt sogar die Graffiti

wie schön

 




 


Grund der Sperrung sind die Folgen eines Tanklaster-Unfalls, durch den zumindest eine von mehreren Eisenbahnbrücken so stark beschädigt wurde, dass sie abgerissen werden muss. Der Fahrer hatte die Kontrolle verloren, der Laster ging unter den Brücken in Flammen auf.

„Der war sprittig“, sagt einer im Zug – wieder ein Beispiel dafür, mit wie wenig Silben man im Ruhrgebiet auskommen kann. Ich sage dasselbe mit spitzer Schnute, so wie es in der Zeitung steht: Der Fahrer hatte Alkohol getrunken.

Als mein Gegenüber aussteigt, irgendwo bei Herne, sagt er: „Tüss, gezz gehtet inne Bronx“. Ich mag diese Art Humor, so kurz und trocken; so ist das eben(t), wenn man damit aufgewachsen ist: Emotionen sind nur portiönchenweise zugelassen. 

So richtig will es nicht passen, dass ich in dieser Atmosphäre einige Gedichtfragmente bearbeite. Andererseits macht mich die lebhafte Stimmung, die hier aufkommt, selbst lebendig, ich fühle mich inspiriert. Anscheinend lassen sich die Menschen durch ihre verordneten Masken nicht mehr bremsen und reden einfach, so wie früher – wobei ich mich frage, ob es virologisch günstig ist, durch eine Maske Dauergespräche zu führen. Allerdings sollte man sich einem Schweigegebot nur freiwillig unterwerfen; der Mensch ist zum Dauerschweigen prinzipiell nicht geschaffen. „Dat neue Stellwerk kannze wegschmeißen, bis dass die Brücke fertig ist, dauertes Jahre“, höre ich noch und habe beinahe Mitleid mit dem angetrunkenen Fahrer, denn die Schäden seiner Verfehlung gehen ins Unermessliche. Scheinbar kleine Ursache … mit monströsen Folgen.

 

Ich habe noch etwas Zeit bis zur Probelesung und beschließe, mir eine Ausstellung in der BIG-Galerie anzusehen; doch wegen Corona muss ich, wie alle anderen Interessierten, draußen bleiben. Das ist umso deprimierender, als man durch die Fenster erkennen kann, dass da im Galerieraum eine Ausstellung installiert ist. Arme KollegInnen. Immer wieder macht Corona einen Strich durch die Rechnung, wieviel Planung und Arbeit haben wir alle nun schon in Projekte gesteckt, die dann nur „halb“ oder gar nicht stattfinden können.

Ein Second-Hand-Laden ist ebenfalls geschlossen. Ich steuere „den Kaufhof“ an, weil ich nach einem Küchengerät schauen will; er wird bald für immer aufgegeben und ist daher zu einer gruseligen Resterampe mutiert. Die Riesenräume sind schon halb leer, die Waren, einst schön ordentlich präsentiert, sind nun ohne Sinn und Verstand zusammengeschoben. Ein Haus, das ich noch aus Kindertagen kenne … so schade. Ich verfluche die Internetkäufe. Für bestimmte Dinge, zum Beispiel Ersatzteile, finde ich sie sinnvoll, aber ansonsten bin ich lieber old-school und mag Schuhe lieber rechtzeitig anprobieren und Materialien sehen und anfassen, bevor ich etwas kaufe.

 

Direkt gegenüber befindet sich die Petrikirche. „Was für eine leere Kirche“, sagt ein Kollege. Ja, sie ist nüchtern (obwohl sie ja nicht leer ist: Es stehen einige Heilige herum), wäre da nicht das „Goldene Wunder von Westfalen“, dieses Meer aus Gold, der lichtgleißende Altar aus Antwerpen, gefertigt in der Reformationszeit (und, jede Wette, davor noch in Auftrag gegeben).




Heute zeigt dieser Altar allerdings nur eine seiner bescheideneren Ansichten – mit Malerei. Auch schön, doch die strahlt nicht dermaßen intensiv in den farblos-lichten Kirchenraum.

Nun stehe ich vorn im Altarraum und staune über die ungewohnte Perspektive, wie immer, wenn ich in Kirchen lese.


Wir alle müssen beim Vortragen mit dem heftigen Nachhall des Raums zurechtkommen und so langsam lesen, dass wir das Programm kürzen müssen. Meinen Part lese ich fast verzagt, denn ich höre sicher ganz andere Nuancen als das Publikum, das heute aber ja noch nicht da ist und nur aus einzelnen herumwandernden Leuten von uns besteht. Interessant ist wahrzunehmen, wie der Kontext des Ortes die Texte verändert; wir hatten sie ja schon 2019 auf dem Kirchentag gelesen, in zwei verschiedenen Räumen, aber nicht hier; die mittelalterliche Kirche scheint nun mitzusprechen, ja regelrecht hineinzufunken.

Unsere Texte befassen sich mit Orten in Dortmund. Über einigen scheint „mein“ Kohlestaub zu liegen, andere entsprechen dem Ruhrgebiet der Gegenwart. Nur in dieser Stadt kann man sie lesen, woanders werden sie wohl kaum verstanden.




Wir fragen uns, wie viele der Stühle, die angeordnet sind, wie Kinder Straßenbahn spielen, morgen besetzt sein werden. Corona bestimmt bis in die letzten Ecken auch die Ästhetik, von geklebten Abstandhaltern, gebastelten Wegweisern über Plexiglas-Barrieren bis hin zu kruden Sitzordnungen. Auch die neuen Anmelde-Rituale nehmen viel Einfluss; spontane Entscheidungen gibt es so gut wie nicht mehr, hier müssen digital Tickets gebucht werden – eine Barriere, die es vor kurzem noch nicht gab, zumindest bei diesen „kleineren“ Veranstaltungen nicht. Vielleicht sind wir mit sechs Lesenden morgen die Mehrheit, wer weiß. Aber alle sind sich einig: Egal, wie es wird, wir haben gern zugesagt.

 

Wir gehen noch ein Bier trinken, in einem Biergarten im Westpark. Dort war ich das letzte Mal als Achtzehnjährige, ich staune über den schönen Park mitten in der Stadt.
Meine Pommes frites muss ich mir mitgeben lassen, die Brutzelei dauert einfach viel zu lange, wegen der Bahnstreckensperrung möchte ich nach Hause aufbrechen. So esse ich die Pommes im Gehen, ich glaube, das habe ich zuletzt als Jugendliche gemacht. Ja, ja, und im Schatten der Liebfrauenkirche, an der ich nun essend vorbeikomme, habe ich damals – ungern – eine Zigarre geraucht, die wurde mir während eines Gemeindefestes angedreht von dem Freund meines Freundes. Heute wäre das aus zweifachen Gründen nicht mehr möglich: Es gibt (zum Glück) keine Zigarren mehr auf Kirchenfesten zu kaufen, und die Liebfrauenkirche feiert solche Feste überhaupt gar nicht mehr; sie ist seit einigen Jahren Kolumbarium, Grabeskirche, ohne Gemeinde.

 




Das Pommes-Schälchen ist geleert, ich laufe schnurstracks zum Bahnhof. Morgen the same procedure oder jedenfalls eine ganz ähnliche.

Zu Hause wartet eine riesige Sendung mit Kunstmaterial … dem Stipendium sei Dank.

 

 


 

Marlies Blauth | 18. September 2020

 


Nachtrag: Die Corona-Hürden sind hoch, es kommt, wie wir befürchtet haben: ausgesprochen wenig Besuch. Schade.

Aber so problematisch die Akustik des Raums für die Lesenden sein mag, so freundlich lässt sie den Applaus auch von Wenigen donnern – man kann regelrecht drin baden. Und wir bekommen auch verbal sehr gute Reaktionen. Deswegen, trotz Corona / wegen Corona: Es hat Spaß gemacht, und wir freuen uns riesig über eine erneute Einladung für das Jahr 2021.

 

Text und Fotos © Marlies Blauth












 


Keine Kommentare: