Im Muttental, Witten
Heute endlich wieder eine Fahrt ins Ruhrgebiet, diesmal dahin, wo der
Kohlebergbau, der über Jahrhunderte diese Region prägte, seinen Anfang nahm.
Der aktuellen Situation geschuldet, denke ich wehmütig an meine Dortmunder Zeit. Wie wäre man in den 70er Jahren mit unserer jetzigen Gegenwart umgegangen?
Seit Monaten bin ich nicht mehr mit dem Zug gefahren. In dieser Zeit
haben sich die Menschen anscheinend noch einmal schubartig verändert: Eine
unheimliche Aggression liegt in der Luft, die Leute weisen einander zurecht
„Setzen Sie Ihre Maske richtig auf!“ (einer Frau mit viel Gepäck war sie beim
Einsteigen verrutscht). Ich werde etwas nervös, weil ich meine falsch herum
trage, dieses Drahtding reitet nicht auf der Nase, sondern sitzt unterm Kinn,
und ich wage nicht, das zu korrigieren, da ich im Blickfeld einer dieser Zivilkontrolleurinnen sitze und die Maske abnehmen müsste.
Die Bahnansage beschallt uns „… wer sich nicht daran hält, muss den Zug
verlassen“. Ältere Leute witzeln, dass „der“ dann durchs Zugfenster abgeworfen
wird. Wie lustig.
Nein, nicht lustig – mir ist zum Heulen. Selbst eher streng (oder besser:
stringent) erzogen, zu Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit, habe ich in meiner
Familie nie „Schwarze Pädagogik“ kennen gelernt; „Ich-warne-dich!“-Drohungen
gab es ebenso wenig wie Hausarrest. Nun, mit gut 60 Jahren, wird das alles noch
nachgeholt?
Die Freiheit, die ich meine, war nie grenzenlos. Allerdings waren auch diese Grenzen meist mit Wohlwollen geregelt. Vielfach ging es um die Sache, nicht um Machtgezerre. Das kam natürlich auch vor, in Pubertätszeiten – ist aber ein ganz anderes Thema.
Dieses Wohlwollen hat mich geprägt; heute bedauere ich sein Fehlen.
Vielleicht war es wirklich die Solidarität der Bergleute, die die
damalige Atmosphäre bestimmte. Man redete nicht, man prahlte nicht, man stand
einfach füreinander ein und ließ niemanden „vor die Hunde gehen“.
vor die Hunde gehen
bedeutet ja: vor den Hunden gehen
und sie ziehen –
diese schweren Kohlewagen unter Tage
nannte man Hund oder Hunt
Das Muttental liegt im Wittener Süden, nicht weit vom Bahnhof. Der Bergbauwanderweg
zeichnet sich durch allerlei Stationen aus: authentische Relikte und
installierte Gerätschaften und Maschinen – Göpel, Haspeln, Hunde / Hunte.
Die Zeche Nachtigall war früher eine große Tiefbauzeche dieser Gegend und wurde später als Ziegelei genutzt. In den verbliebenen Gebäuden ist heute ein Industriemuseum, leider wegen der aktuellen Anordnungen geschlossen.
Sehr eindrucksvoll ist ein Kohleflöz (Kohleader), der durch eine
Felswand verläuft: die glänzende Kohle glitzert in der Sonne und zeigt
gleichzeitig deutlich, durch welch massive Gesteinsschichten sich die Menschen
arbeiten mussten, um an das begehrte Material heranzukommen. Vorindustriell
geschah das mit Muskel- oder Pferdekraft, wobei das Entwässern eine
Wissenschaft für sich war (Wasserkunst).
Ein kleines Denkmal mit einem schlichten Kreuz erinnert daran, dass Menschen immer wieder unter Tage verunglückten. Ich erinnere mich an meine alte Vermieterin (*ca. 1914 – ?), deren Vater bei einem Grubenunglück ums Leben kam. Fast noch ein Kind, wurde sie als Hausmädchen in die Fremde geschickt und durfte nur über Weihnachten zu ihrer Familie. Als Schülerin wäre sie zu teuer gewesen, da der Haupternährer nun nicht mehr lebte. Die Knappschaft, ein sehr altes System der Sozialfürsorge für Bergleute (Belege aus dem Harz aus dem 13. Jahrhundert), konnte damals vermutlich nur für das Nötigste aufkommen, maßgeblich waren auch die Dauer der Mitgliedschaft und anderes.
Das Bethaus im Muttental war nicht nur Bet-, sondern auch Versammlungsraum
– was sehr pragmatisch wirkt. Genauso, nämlich alltagspraktisch, habe ich in
meiner Ruhrgebietszeit die religiöse Haltung erlebt: Man redete wenig bis gar
nicht über Glaubensdinge. Anderes war wichtiger. Doch man glaubte tief im
Herzen. Die kleine Kirche neben meiner Schule war so eine Herzensangelegenheit,
Maria, die schützende Mutter, wohnte in einer geheimnisvollen, rußig dunklen
Grotte. Kitsch aus dem 19. Jahrhundert, aber ein feiner Moment für die Seele. Auch
an die Barbarazweige erinnere ich mich, die meine Mutter regelmäßig am Barbara-Tag
(4. Dezember) aufstellte – nicht ohne zu betonen, dass sie als Protestantin ja
eigentlich nicht an Heilige glaubt. Aber es sei doch so schön.
Schnell zurück ins Arbeitsleben: Wir sehen einige Zugänge zu den ehemaligen Stollen (waagerechte Gänge im Berg), Haspelanlagen (uralte Form der Fördertechnik aus senkrechten Schächten) und Göpelhäuser (mit einfacher mechanischer Technik, vielfach angetrieben mit Pferdekraft), auch eine Sammlung von Arbeitsgeräten, verschiedene Grubenhacken – das Gezähe, die notwendige Ausstattung für den Bergmann. Und das oft genannte Arschleder ist dabei.
Zurück geht es durch eine Landschaft, die ich verinnerlicht habe, obwohl
ich an diesem Ort hier noch nie war: „mein“ südliches Ruhrgebiet. Kurz hinter
dem Schloss Steinhausen, einer historischen Schönheit, die völlig überraschend aufgetaucht
ist, erreicht man einen interessanten Scheitelpunkt zwischen landschaftlicher
Idylle und dem Koloss des Stahlwerks (Gussstahlwerk Witten).
Ästhetische Gegensätze wie dieser – summiert zu einem unerschöpflichen
Kontrastreichtum – tauchen mehrfach in meinen Gedichten auf; vermutlich waren sie prägend für meine künstlerische
Entwicklung. Aber auch für die menschliche: Harte Schale, weiches Herz, so sagt
man es ja. Für mich etwas ganz Normales, dass Menschen so sind und ihre
Gegensätzlichkeit weder vertuschen wollen noch müssen.
Zum Schluss bediene ich noch das Klischee des Glück auf: Man hat diesen Gruß, diesen Wunsch ein wenig zu sehr strapaziert mit nostalgischem Blick aufs Ruhrgebiet, außerdem kommt er aus Sachsen (wie auch das Steigerlied). Und doch bildet er etwas Typisches ab: Kein Wort zuviel und doch alles enthalten.
Ein herzliches „Glück auf!“ wäre mir jedenfalls lieber als diese allgegenwärtige Befehlsform „Bleiben sie gesund!“ – mag Letzeres noch so freundlich gemeint sein. Glück brauchen wir immer, denn eigentlich ist jeder Tag so unwägbar wie die Einfahrt ins Bergwerk.
Marlies Blauth | 28. Februar 2021
Text und Fotos © Marlies Blauth
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