Wir öffnen (uns) – eine beschwingte
Stadt
Nun also ein neues Projekt:
Das erste – Kohlenstaub – klingt aus, bald wird die Essenz davon sichtbar in
Form eines Buches. Jetzt bin ich unterwegs, um Menschen wahrzunehmen, die
Kommunikation zwischen ihnen und mit ihnen.
Wieder begleite ich die Freundin, die an einem klinischen Sonderprogramm in Wuppertal teilnimmt. In
dieser Stadt habe ich dreizehn Jahre gewohnt, erst bedingt durch mein „buntes“ Studium
(Kunst, Biologie, Kommunikationsdesign, Ev. Theologie – Letztere „nur so“, ohne
Abschluss), später durch meine Arbeitsstelle. Also kenne ich Wuppertal recht
gut, auch wenn es mir nie zur Heimat wurde, denn das Bergische Land mit seinen
Menschen ist mir immer fremd geblieben. Manchmal bleibt man eben an einem Ort hängen,
ohne es jemals so geplant zu haben.
Allein schon wegen der
vielen Regentage erlebte ich Wuppertal oft schwergängig und schlecht gelaunt,
aber die Stadt hat natürlich auch ganz andere Seiten und besitzt jedenfalls Charakter.
Heute fahren wir in die Sonne – in sonniges Wetter und in sonnige Stimmung, denn es hat, gleichsam über Nacht, einige Corona-Lockerungen gegeben. Diese Bezeichnung mag ich eigentlich nicht, denn ich muss dabei immer an einen Pitbull denken, dem man sein stacheliges Halsband etwas lockerer einstellt. Aggressive Hunde sind wir ja nun nicht. Dennoch: Der Sachverhalt ist eine Süßigkeit für die Seele: Mehr als sieben Monate Lockdown! Nun will ich einfach schauen, was (wieder) geht, was sich geändert hat, was es „mit den Menschen macht“.
Ich laufe zum Laurentiusplatz, wo ich, wie beim letzten Mal, einen Packen Bücher in den Öffentlichen Bücherschrank stelle. Schon hier nehme ich lachende Stimmen und Klappergeräusche wahr, die auf Kulinarisches hinweisen: Cafés und Restaurants sind geöffnet! Er-öffnet!
Ich frage mich durch. Wo
stehen die Tische und Stühle der Eisdiele (die besonders leckeres Malaga-Eis
herstellt, heißt es im Internet)? Darf man sich einfach so niederlassen, ohne
Getestet-geimpft-genesen-Formular? „Ja, ganz wie früher!“ bestätigt mir eine
Dame begeistert. Vor ihr steht ein wunderbarer Erdbeerbecher, überhaupt wirkt
alles wunderbar gerade, selbst der ganz schlichte Milchkaffee, den ich mir
wenig später bestelle. Die Bedienung ist so happy, dass man gleich etwas Nettes
zurücksagen muss, alle Menschen lächeln, weil so viele Barrieren gleichzeitig
gefallen sind, nicht zuletzt die Anti-Lächel-Maske, auf die man beim Eisessen getrost
verzichten darf.
Die Nebentische stehen recht
weit weg, aber das macht nichts, es entwickeln sich trotzdem Gespräche. Ich
schreibe an meinem Gedicht Sonnengesang, die beiden Damen am nächsten
Tisch sprechen mich an: “Wenn Sie Inspiration brauchen, wir stehen zur Verfügung!“.
Ich lache und erkläre: „Da liegen Sie ganz richtig, ich bin Künstlerin und
Autorin und befasse mich aktuell mit dem Thema Menschen.“ Wir reden über
coronabedingt Abgesagtes, über die Stadt Wuppertal, wie schön die Nordstadt ist
mit ihren alten Häusern, übers Zeichnen. Ich genieße die mediterrane Atmosphäre,
die ich gerade in Wuppertal nie erwartet hätte. Die Stadt wirkt auf mich wie
ein Mensch, der ein Kleidungsstück trägt, das ihn besonders attraktiv macht, was
ihm wiederum zu einer besonderen Ausstrahlung verhilft: „meine“ graue Stadt,
die plötzlich in Farbe daherkommt.
Wir reden und lachen, ich
arbeite mich durch eine ausnahmsweise riesige Eisportion (mit Malaga), da ruft die
Freundin an, dass ich zur Klinik kommen kann. Was? Anderthalb Stunden sitze ich
nun schon hier? Beschwingte Menschen lassen die Zeit wie im Flug vergehen –
interessant, wie diese bildhaften Umschreibungen alle mit Luft und Fliegen und
Leichtigkeit zu tun haben. Es geht aufwärts!
Die Freundin berichtet von derselben Stimmung im Krankenhaus; die Ärztin war noch lockerer und gesprächiger als sonst, es wurde gescherzt und gelacht.
Anschließend gehen wir in die Stadt, die Läden haben wieder offen, man darf ohne G-Gedöns hinein, braucht allenthalben seine Maske. Aber die ist ja nicht der Rede wert. „Einfach so in den Kaufhof!“ – wir können es kaum fassen, nach so vielen Monaten. „Guck mal, all die Waren …!“ sagt die Freundin, und mir kommt der Gedanke, dass es ähnlich gewesen sein muss damals, wenn man aus der DDR in den Westen kam. Wir genießen es, „diese Waren“ einfach nur anzusehen und, wie Kinder, zu staunen. Irgendwie hatten wir die „schönen“ Läden fast vergessen, kauften immer nur Fressalien und Klopapier. Ich brauche einen Sonnenhut, herrliche Exemplare gibts, allerdings habe ich nicht die richtige Kopfform, ich sehe mit allen Modellen gleich doof aus und beschließe, lieber doch keinen Hut zu kaufen. Aber es ist schön, die verschiedenen Materialien anfassen zu dürfen und nicht nur als Bildschirmbild zu erahnen.
Wir besuchen noch ein paar weitere Geschäfte, aber von einem Kaufrausch sind wir weit entfernt: Das Anschauen ist Vergnügen genug.
Unseren Zug verpassen wir, obwohl wir längst auf dem richtigen Bahnsteig stehen. Allerdings ganz vorn, wo niemand hinkommt, damit wir unsere Masken mal kurz abnehmen können. Wir stehen lustig und redselig in der Sonne und merken nicht, dass der Zug weiter hinten hält. Fährt er also ohne uns! Für Ärger hat unsere Seele heute keinen Platz: „… und abermals sage ich euch: freuet euch!“, steht in der Bibel, und genau das haben wir einen Tag lang gemacht.
Marlies Blauth | 9. Juli 2021
Text und Bild © Marlies Blauth
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