Von der Schwierigkeit, sich
in Texte zu versenken
Die Gegenwart gebietet es, sich eher fernzuhalten von Menschen.
Des Virus' Wege sind noch
immer rätselhaft, Art und Dauer der menschlichen Immunität auch – wie lange
wirkt der Impfschutz, wie lange die natürliche Immunität nach durchgemachter
Krankheit –, die Politik zeigt sich als unsensibel und schwergängig.
Außerdem möchte, ja muss ich
für mein zweites Stipendium arbeiten! Mein Buch Bilder aus Kohlenstaub,
ermöglicht durch das erste NRW-Stipendium, hat doch sehr viel Zeit und Energie
benötigt.
So beschloss ich irgendwann im Oktober, dass ich vom 1. November bis Weihnachten, vielleicht auch darüber hinaus, „in Klausur“ gehen will, ins Atelier; mit etwas anderen Schwerpunkten als gewohnt. Bete und arbeite, Ora et labora, sagte ich früher scherzhaft zu meiner Mutter, wenn ich täglich zehn Stunden künstlerisch arbeitete und sie mich nach meinem Leben, nach meinem Befinden fragte. Durch meinen später völlig anders gestalteten Familienalltag – mit vier Kindern – war das über längere Zeit so nicht mehr möglich. Nachtarbeit und ein paar abgezwackte Stunden, wenn man die Kinder betreut weiß, bedeuten einen völlig anderen Rhythmus.
Nun frage ich mich, ob man das Ora et labora vielleicht doch mal „ohne Scherz“ ausprobieren sollte: Die Arbeit unterbrechen, um jeweils eine halbe Stunde am Tag spirituelle Texte zu lesen, möglichst immer einen je „Durchgang“, damit ich mich meditativ hineinversenken kann. Ich verspreche mir Distanz – zu mir selbst und zu den Problemen, die die gegenwärtige Zeit aufgeworfen hat. Die existentiellen Fragen, die mit diesen Alltagsproblemen verbunden sind, und erst recht die Antworten bleiben leider in der Schwebe, dafür gibt es gerade keine Diskussions-, keine Gesprächsebene.
Ich suche also geistliche (Kurz-)Texte, Auszüge, nehme auch Zufallsfunde oder auch solche, die ich, wie auch immer, warum auch immer, im Gedächtnis habe. Dazu gehört das Ave Maria, für Protestantinnen wie mich eine Art verbotener Garten. Dabei liebe ich das Bild der Schutzmantelmaria sehr, gerade jetzt. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich für ein Marienkrankenhaus eine Maria „mit dem Tragetuch (und natürlich dem Kind darin)“ angefertigt.
Aber das Gebet??
Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade,
der Herr ist mit dir.
Du bist gebenedeit unter den Frauen,
und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus.
Heilige Maria, Mutter Gottes,
bitte für uns Sünder
jetzt und in der Stunde unseres Todes.
Ich lese es laut, spreche es … und habe keinen Schreibstift zur Hand. „Bitte für uns Sünder“, nein, das ist mir zu mittelalterlich, das kann ich nicht. Weder „bitte für uns“ noch „Sünder“. Ich mache ein „sei bei uns“ daraus, auch ohne Stift, denke an Maria mit dem Schutzmantel: Wenn wir darunter, unter dem Riesenmantel, Schutz finden wollen und sollen, muss sie ja „da“ sein, die Maria. Ja, so gefällt es mir besser, sei bei uns jetzt und in der Stunde unseres Todes.
Immer wieder spreche ich es, eine halbe Stunde ist lang für einen so kurzen Text. Und dann kommt der Durchhänger (den ich bei meinen Dreißigminutenübungen immer wieder feststelle): Ach, das Bild dort an meiner Wand hängt schief, das muss ich jetzt unbedingt richten. Da kann man doch nicht ständig draufgucken. Und etwas zu trinken brauche ich auch!
Wie würde es sein, die Dauer auf zwei oder drei Stunden zu erhöhen? Marina Abramović hat es tagelang gemacht! Ein bisschen schäme ich mich, merke aber auch, dass es sinnvoll ist, die Klosterklause karg zu halten, eine Gebetsecke („Herrgottswinkel“) oder eine Hauskapelle zu haben – oder eben eine Klosterkirche. Hab‘ ich alles nicht in meinem Atelier. Da ruht die Arbeit; sie ruht, aber ist auch präsent, bietet willkommene Forderungen, so gehe ich schauen, ob die Farbe von eben schon getrocknet ist oder nicht. Und dann geht es weiter mit Mary. Okay, dein Gebet kann ich, mit meiner kleinen Änderung, nun auswendig. Und ich fühle mich, seltsamerweise, wie frisch gebadet. Kein Bällebad, sondern ein Wortebad. Schön!
Am nächsten Tag entscheide ich mich für Verleih uns Frieden, die Übersetzung Luthers der gregorianischen Antiphon Da pacem, Domine, in diebus nostris. Ein Kirchenlied, ein Fragment, das mich als Kind schon beeindruckte – vielleicht, weil mein Vater Kirchenmusiker war, vielleicht, weil ich 12 Jahre nach dem Ende des Krieges geboren bin und viele Ruinen meiner Heimatstadt noch für einige Zeit sichtbar waren. Mehr musste ich nicht vom Krieg wissen, überall Ruinen und Kriegsverletzte mit ihren demütigend schlichten Prothesen und Krücken: Ich hatte Angst vor Krieg. Heute weiß man, dass irgendetwas ("Epigenetik"?) die Erfahrungen der Eltern auf ihre Kinder übertragen kann; damals wunderten sich alle, warum ich bei jeder Sirenenübung in Panik geriet.
So ein „heiliger“ Text war ein Trost, und seine Zeitlosigkeit habe ich früh begriffen.
Das Eintauchen in diese eindringliche Bitte – auch um
eigenen, inneren Frieden – gelingt mir jetzt ganz gut. Sicher auch deswegen,
weil ich die Melodie ja kenne und sie zwischendurch singe. Das erfordert ja
andere Atem- und Muskeltätigkeit als das pure Sprechen, und ich merke, dass mir
bei meiner „halben Stunde“ jede kleinste Abwechslung guttut. Ich bin kein
Mensch, der Wiederholungen liebt; ich bin immer für Variationen, Ausprobieren
von unbekannten Details, neue Kombinationen. Sonst wäre ich vermutlich keine
Künstlerin.
Dieses Interesse für Varianten merke ich auch bei meinen nächsten Texten (z. B. Psalm 85). Dem „Durchhänger“ flüstere ich ein, dass er bitte kein Getränk fordern oder mich irgendetwas richten lassen soll; gut, sagt er, dann lies den Text einfach in verkehrter Reihenfolge, von hinten nach vorn. Ich mache genau das, und was soll ich sagen: Ich mache es nun jedes Mal auch an den folgenden Tagen. Der Text wird durchgeschüttelt, unter die Lupe genommen, neue Assoziationen entstehen. Ich merke, irgendwie will ich den dreißig Minuten etwas abringen. Ein Klosterleben mit Tagzeitengebeten, immer wieder, immer zur selben Zeit … wäre tatsächlich nichts für mich. Meine Neugier, mein Lernenwollen, mein Weiterwollen spielen sich irgendwie doch auf einer anderen Ebene ab als auf so einer spirituellen. Vermutlich würde mich auch in der kargsten Klosterkirche alles Mögliche ablenken – und sei es die (dann wohl eher nette) Fliege an der Wand.
Für den nächsten Tag habe ich mir ein Lutherlied (Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist) vorgenommen. Eigentlich finde ich es sehr fremdartig und unzugänglich, so völlig fern von unserer Lebenswirklichkeit. Gleichwohl birgt es eine wunderbare Zeile: Zünd uns ein Licht an im Verstand.
Ich lese den Text meine dreißig Minuten, kann ihm
irgendwie nichts abgewinnen, und doch lässt er mich nicht los. Für den Tag darauf
habe ich ihn „gewolft“ (im Automatengedichtautomat von Hannes Bajohr), was ihn
natürlich noch absurder macht und bei den zahlreichen Lesedurchgängen so
richtig heftig holpern lässt:
siebenfaltbesuch
das herz erhalt lebend
dass der ewigkeit eine hand
wir zungenmenschen
verstand fern
teuer fest an uns
lob du herz
voll sein füllbrunn
in folgen licht bald
seelen werden gott
gibst dem toten jesus beide
tröster du
treib kraft denn wort
Einen Tag später flüchte ich
mich ins Hohelied Salomons, das heißt ich habe die Aleatorik bemüht (irgendwo
die Bibel aufgeschlagen und Finger drauf). Deine Liebe ist lieblicher als
Wein. Ein sehr farbenfroher Text, ich sehe orientalische Ornamente, ich lese
es fast als Singsang und habe Spaß daran. Es geht gerade so mit der halben
Stunde.
Am nächsten Tag lese ich mein eigenes Gedicht Anna (oder auch Anna selbdritt):
Als ich am Abend
Dankesworte in mein Buch schrieb,
schien das Licht der Welt
auf,
drang durchs Fenster
(meine Tochter –
saphirleuchtend –)
es traf meine Stirn,
berührte
sanft meine trüben Augen
und die Buchstaben tanzten
ihren Reigen:
Ich habe den Weg
die Wahrheit, das Leben
gesehen –
Das ist, wenn auch kein typisches Gedicht von mir, doch mein eigener Tonfall, die halbe Stunde bekomme ich gut hin, weil ich irgendwie eins bin mit meinem Text. Ich „muss“ ihn auch gar nicht rückwärts lesen.
Interessant finde ich, dass
es in diesem kurzen Text heißt „die Buchstaben tanzen“. Ein Phänomen, das ich
zeitweise gerade selbst erlebe: wenn man dieselben Wörter immer wieder liest, diese
langsam abstrakt werden – also ihre Bedeutung abzustreifen scheinen – und sich zu einem skeletthaften Gebilde aus Buchstaben verändern. Vielleicht hat Anna ihre
Dankesworte auch immer wieder gelesen? Und diese Worte verschmolzen zum
Dankbar-Sein?
Wie weiter oben schon erwähnt: Ich erlebe nach dieser, „meiner“ halben Stunde ein Gefühl wie Gebadetsein, ein Durchatmen wie nach einem Pfefferminzbonbon – also einen seltsamen Gegensatz zu meinem Unmut, meiner Ungeduld, meinem Konzentrationsmangel: Irgendetwas scheint sich ereignet zu haben. Auch wenn es mir schwer fällt, so scheinen sich Körper und Seele gleichsam ein Scheibchen Ruhe und Erfrischung zu nehmen. Ich sehe aber auch, dass ich – wie es so schön heißt – ein Kind meiner Zeit bin; wie oft bin ich gefragt worden: „Was soll das (bedeuten, darstellen, aussagen)? Was bringt das?“ Ich mache eben Kunst, schreibe etwas auf, einfach weil ich es schön oder interessant finde. Der ständige Drang und Zwang zum Sinnhaften blieb aber natürlich nicht ohne Folgen: Wie ein mahnender Zeigefinger kommt er in meiner halben Stunde hervor und bringt mich immer wieder einmal zum Bilder-Geraderücken oder Etwas-Wegzupfen.
Ganz neugierig werde ich demnächst
darauf achten, ob man so etwas „weglernen“ kann.
Ich packe meine Tasche fürs Atelier, meine temporäre Klause, nicht ohne einen
neuen Text auszudrucken. Heute ist meine „Übersetzung“ des lutherschen
Pfingstliedes dran. An einer Stelle – zünd uns ein Licht an im Verstand habe
ich natürlich gelassen – heißt es im Update:
Denn du bist
Balsam für unsere Seele,
bist wie ein sprudelnder
Brunnen,
Liebe und Feuer.
Einatmen, ausatmen … und das Bild schief hängen lassen.
Marlies Blauth | 30.
November 2021
Text und Bilder © Marlies Blauth
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