Freitag, 17. Juni 2022

#Herbarium Tagebuch | 9

 






Zwischen Historismus und Jugendstil: paradiesisch viele Formen und Farben – die Lutherkirche in Dortmund-Asseln


Heute ist der Begriff Vielfalt in aller Munde (ob wir bei den Menschen auch wirklich vielfältige Biografien, Lebensformen, Ansichten etc. mit ganzen Herzen akzeptieren, sei dahingestellt). In der Asselner Kirche ist die Vielfalt Programm, ja, wie in einem Naturgarten gedeihen die verschiedensten Form- und Farbelemente nebeneinander, übereinander, miteinander, gegeneinander. Der Kirchenmaler Otto Berg, der sich „nach 1900 dem Jugendstil zuwandte“ (Wikipedia), hat hier das Sowohl-als-Auch Gestalt werden lassen, Übergänge, Gegenbewegungen geradezu in einen Raum gezwängt (oder, freundlicher formuliert: es ihnen erlaubt). Für mich und mein Projekt allemal passend! Das Werk Otto Bergs ist mir schon in der Friedhofskirche in Wuppertal begegnet, eine dritte Station ist geplant.






Die Kirche ist im ersten Moment dunkel, besonders wenn man aus dem Juni-Sonnenschein hineinkommt. Ich werde von den Damen der Offenen Kirche freundlich empfangen, und da ich mich sicherheitshalber angemeldet hatte, kannten sie auch mein ungefähres Anliegen.

Meine Augen haben sich der Dunkelheit der Kirche angepasst und dürfen nun in der Lebhaftigkeit der Ornamente geradezu schwelgen. Ob ihnen der Muster-Mix gefällt, ist hier nicht die Frage – der Eindruck von Reichhaltigkeit, die Ausmalung als historisches Dokument ist wesentlicher. Im Gegensatz zu vielen zerstörten (und größtenteils wieder aufgebauten) Kirchen in Dortmund ist hier der Originalzustand erhalten.





Ich darf sogar in die erste Etage, auf eine der Emporen, wo man dem Himmel näher ist, auch zum Fotografieren der Ausmalungen. Freundlicherweise wird mir dort aufgeschlossen, die alte steinerne Treppe mit dem ziselierten Geländer ist wuchtig und stabil und verspielt gleichermaßen. Alte Gebäude haben immer ihre geheimnisvollen Ecken. Auch im Altarraum darf ich mit meiner Kamera herumlaufen, denn da gibt es die kunstvollsten Ornamente.








Wie in allen ausgemalten Kirchen, die ich besuche, ist das Spielerische nicht zu übersehen, die Lust am Dekor und an der Fülle. Durften oder sollten die Augen der Gläubigen eigentlich an Wänden und Gewölbe „spazieren gehen“? Wie kommt es, dass dem evangelischen Hören des Worts plötzlich (wieder) ästhetische Gestaltung entgegengesetzt wurde? Trifft hier der Mittelalter-Hype des 19. Jahrhunderts auf den Repräsentationswillen der Kaiserzeit? Was sagten Theologie und Theologen dazu?











Aber dieses Füllhorn aus Formen und Farben hat eben auch etwas Umfangendes, Umschmeichelndes. Jede Kirchenbank hat ein anderes Motiv, die Fußbodenkacheln sind floral-bunt, überall gibt es liebevolle Details. Jede Perspektive ist eine andere, und das verleiht dem Raum eine Dynamik, die auf die Besucher und Betrachter geradezu überspringt. Das Ornamentale, die Wiederholung des Gleichen oder Ähnlichen, sorgt dabei für Maß und Ruhe innerhalb der Bewegungsfreude.


















Vielleicht ist es genau das, was wir gerade brauchen: Bitte keinen Stillstand, aber bitte auch keine Hektik. Verweilen tut der Seele gut, mit oder ohne Glauben.

Die „paradiesische Vielfalt“ dieser Kirche könnte man verstehen als Hinweis auf Mensch und Natur, auf Wandel und Beständigkeit, auf Inspiration und eine verlässliche feste Burg. Nein, es ist nicht einfach nur Deko.

 

 




 

Marlies Blauth | 15. Juni 2022

Text und Fotos © Marlies Blauth

 






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