SEV – Schienen-Ersatz-Verkehr
Als lächelnde Schildkröte unterwegs
Schildkröten sind geduldig, beharrlich und
neugierig. Diese Eigenschaften erweisen sich als passend bis überlebenswichtig,
wenn man mit dem ÖPNV, dem öffentlichen Personen-Nahverkehr, unterwegs ist; in
mehr als vierzig Jahren Vielfahrerei habe ich das gelernt.
Was also ohnehin schon eine Herausforderung
bedeutet, besonders wenn man zwei Provinznester nahverkehrsmäßig verbinden
muss, wird im Moment noch einmal multipliziert, denn überall werden Schienen,
Oberleitungen und Stellwerke ersetzt und ausgebessert. Heißt: Es fahren Busse
statt Schienenfahrzeuge. Normalerweise macht man sich keine Gedanken, wie
praktisch eine Direktverbindung per Schiene ist, so ganz ohne Kurven und
Kehren. Der Bus hingegen ächzt durch kleine Sträßchen, wendet und wartet, und auf
diese Weise kann sich die Fahrzeit locker verdoppeln.
Ich möchte eine Schulfreundin besuchen, in
Schwerte an der Ruhr, wo wir damals auch zur Schule gegangen sind. Die
Fahrplan-App spuckt und hustet – und bietet, offenbar mit ganz schlechtem Gewissen,
gleich drei „SEVs“ an.
Den ersten kann ich – wortwörtlich – umgehen,
indem ich einen längeren Fußmarsch in Kauf nehme, den zweiten meide ich wie die
Pest / fahre einen Umweg; nur der dritte bleibt mir nicht erspart.
Leider hat mein Zug fünf Minuten Verspätung.
Nicht der Rede wert, eigentlich; doch der Dortmunder Hauptbahnhof ist voller
Menschen und voller Baustellen, und ich bin mit über sechzig Jahren leider „schildkrötiger“
als früher, so dass ich es in zwei Minuten gerade mal schaffe, zum mir noch
unbekannten Behelfs-Abfahrtsterminal zu gelangen. Just in diesem Moment fährt
der Bus mit „SEV Schwerte“ los, im Schritt-Tempo an mir vorbei. Preußische Pünktlichkeit
ist dermaßen tugendhaft, dass man gern auch mal Menschen stehen lässt, die
(unverschuldet) drei Sekunden zu spät kommen. Mein Hilfeschrei
Ich-will-auch-noch-mit! wird mit einer höhnischen „Ach, das tut mir jetzt
leid“-Geste beantwortet – und weg ist der Bus. Besonders bescheuert: Kein
einziger Fahrgast sitzt drin. Da hätte man doch noch schnell eine Gästin aufnehmen
können.
Die sitzt nun an der Haltestelle und schlägt
dreißig Minuten tot; man gönnt sich ja sonst nichts. Nun gut, es ist Sommer;
nicht meckern, sondern den Geduldsfaden pflegen.
Dennoch kriege ich mein Aufgebrachtsein nicht
ganz weg und frage den Fahrer des nächsten SEV (immerhin ist er pünktlich da),
wo man sich über den überaus netten Kollegen beschweren kann: DB, Eurobahn, whatever?
Dieser Fahrer, sehr freundlich, rät mir von einer Beschwerde ab: „Dann kriegen
wir alle pauschal eins auf die Mütze …“. Ich sage, dass ich natürlich die genaue
Zeit angeben will, aber er bittet mich nochmal: „Ich kann Sie ja nicht davon
abhalten, aber …“.
Das ist die Geburtsstunde meiner Glosse. Keine
Beschwerde, aber doch verewigt. Denn: ich beginne zu lächeln. Ich weiß ja,
dass der SEV von Dortmund nach Schwerte eine Sightseeing-Tour durch meine
Kindheit und Jugend werden würde. Was ist da eine halbe Stunde? Nichts.
Erst einmal fahren wir an der BIG-Galerie vorbei, in
der aktuell zwei Bilder von mir hängen. Dann durchs Kreuzviertel … hach ja, da
hatte Gerda Türke ihre Galerie: Was waren das für schöne Zeiten. Ich noch Studentin,
werdende Künstlerin, mit einer Galeristin, die an mich glaubte, Kunden hatte,
die zu Fans wurden und nach Neuem fragten, kritisch und begeistert waren, alles
gleichzeitig.
Auf der linken Seite erscheint das
Max-Planck-Gymnasium, wo mein Vater viele, viele Jahre Lehrer war; ich erinnere
mich noch gut, als ich, ein kleines Kind noch (1961), zu einer Begehung des damals
ganz frisch-fertigen Gebäudes mitgenommen wurde, noch bevor es eingeweiht war.
Ganz viel Modernes, das man stolz präsentierte.
Später saß ich oft in Vaters „Kabüffken“ (da
lagerte alles, was man als Musiklehrer so brauchte) und malte oder las, während
meine Eltern ihre Orchesterproben hatten. Noch heute rührt es mich an, wenn ich
das typische Stimmen, das Aufeinanderabstimmen der Instrumente höre. „Ist dir
denn nicht langweilig?“, fragte mich manchmal einer der Lehrerkollegen; aber
nein, für mich war es einfach behaglich, meine Zeichenstifte zu haben und im
Hintergrund die Musik zu hören. Ständig bespaßt zu werden, war ja auch gar
nicht üblich damals.
Der Bus hält an der Schranke in Brünninghausen. Früher gab es da noch einen Schrankenwärter, und ich hatte als Kind immer Angst, dass er seinen Einsatz verschläft. Jedesmal war ich froh, wenn wir die Schienen passiert hatten. Genau: Schienen(ersatzverkehr)!
Ich mache ja in Wirklichkeit
gar keine Sightseeingtour!
Vorbei am Torhaus Rombergpark. Ich erinnere
mich, dass mich irgendein Jugendfreund einmal „mitschleppte“ in eine
Ausstellung; Ausstellungen gibt es dort schon sehr lange. Meine Eltern,
kulturaffin, doch mit Fokus auf die Musik, wussten gar nicht, dass man ins
Torhaus überhaupt hineinkommt, geschweige denn, dass dort, ständig wechselnd,
Kunst zu sehen ist.
Wie immer in solchen Entdeckungsmomenten, war
ich begeistert und verzaubert – und nahm mir vor, dort irgendwann selbst Bilder
zu zeigen; unbedingt!
Wie oft das inzwischen der Fall war, kann ich
nun schon nicht mehr zählen. Aber jedenfalls: Ziel erreicht, zweimal hatte ich dort eine Einzelausstellung.
Es geht weiter durch das Gelände Phoenix West. Als
es noch in Betrieb war, war es wohl der Ort, von dem das Engel-backen-Kuchen-Rot
des Himmels herkam, das wir vom Elternhaus aus sehen konnten: Hochofen-Abstich.
Jedes Dortmunder Kind kannte es.
Später installierten wir – KünstlerInnen der
Dortmunder Gruppe – dort Bilder, oder besser: große Drucke von Bildern,
Kunstfahnen. Leider kam wenig später der Bilderklau vorbei, mit schlechten
Absichten und Saitenschneider, und entwendete ungefähr zwanzig Fahnen.
Überall wohnen noch Geschichten: Hier lebte B., die
ich auf einer kirchlichen Freizeit an der Ostsee kennengelernt hatte, dort A.,
eine Klassenkameradin mit ADHS, was man damals aber noch nicht benennen konnte.
Sie tat mir immer leid, weil sie einen besonders langen Schulweg hatte. Ich
fürchte, sie hatte schon einen Schulwechsel hinter sich, weil sie so viel
Blödsinn machte. Eigenartigerweise verstanden wir uns eine Zeitlang ganz gut;
ich, die „Schildkröte“, hatte wohl einen leicht beruhigenden Einfluss auf sie,
was ihre Mutter offenbar sehr schätzte. Natürlich stachelte sie mich umgekehrt
hin und wieder an, irgendeinen Mist mitzumachen – was wiederum meine Mutter
überhaupt nicht goutierte. Diese Bredouille löste sich aber bald auf, da A.
unsere Klasse wieder verließ. Was wohl aus ihr geworden ist?
Vorbei an dem Preußischen Meilenstein an der
Schüruferstraße (den wir in der Grundschule einmal be/suchen und zeichnen
sollten) – und dann fährt der Bus doch nicht, wie vermutet, geradeaus weiter,
sondern durch Berghofen! Mein Berghofen!
Nein, es ist kein Edelstadtteil (wie oft
unterstellt); sicher, es gibt mittlerweile „gut betuchte“ Wohngebiete dort, aber
das alte Berghofen ist handfest und ohne Schnörkel. Nicht besonders attraktiv,
wenn man so durchfährt und schaut. Eher gesichtslos. Einige – schöne –
Bauernhöfe lagen früher nahe der Hauptstraße; sie mussten so modernen wie
charakterlosen Gebäuden weichen, die nun auch in die Jahre gekommen sind. Leider
altern sie mit ihrem verbauten Beton und ähnlichen Materialien anders –
schneller und „brutaler“ – als der Jahrhunderte alte Bestand. Zwei der Bauernhöfe
gibt es noch; über einem scheint ein großes Fragezeichen zu schweben.
Bittebitte nicht auch noch abreißen …
Wie die alte katholische Kirche St. Josef! Was musste
ich damals heulen. Als Grundschüler der Schule nebenan schlichen wir damals
manchmal hinein, vorbei an der Madonnen-Grotte am Pfarrhaus. Für mich als evangelisches
Kind eine fremde, bezaubernde Welt. Und irgendwann waren Grotte und Kirche und wohl
auch das Pfarrhaus einfach platt. Die neue Kirche war, natürlich, praktisch und
hell und vor allem größer (damals vergrößerte man sich noch!), aber so richtig warmwerden
konnte ich mit ihr nie. Dennoch: Als ich jetzt vorbeifahre, ruft ihre Glocke zu
einer Totenmesse (der Wagen mit dem Sarg steht sichtbar vor dem Eingang), und der für mich altbekannte Klang des Läutens lässt wehmütige Erinnerungen bei mir
aufkommen. Ein bisschen Charakter hat sie doch, die Kirche aus Beton. Und die Jugendgottesdienste,
die wir ökumenisch gestalteten, waren ja wirklich auch schön. Und neu, und
besonders.
Das winzige Haus meiner Grundschullehrerin gibt
es auch schon lange nicht mehr. Ein bisschen war es ein Hexenhäusel, inmitten
von Obstbäumen. Na ja, so richtig spannende Architektur hat man danach leider auch nicht hingesetzt.
Wir haben gerade die Grenze zu Aplerbeck
passiert. Nun fährt der Bus tatsächlich an meinem Geburtshaus vorbei! „Wir
haben gar nichts gemerkt“, soll die Nachbarin aus der Etage drüber am nächsten
Tag gesagt haben. Der Laden im Erdgeschoss, von dem aus mein Vater Hebamme und Arzt
antelefoniert hatte, existiert schon lange nicht mehr. Währenddessen ist das
Nachbarhaus eines der ganz wenigen, an denen „überhaupt nichts gemacht wurde“
in den letzten fünfzig Jahren. Nun wirkt es wie der Einstieg in eine Zeitreise.
Ich gehe – in Gedanken – nochmal als kleines Kind hin und klingele meine
Freundin heraus. Die hat Schildkröten … Später wird mir mal eine Griechin
sagen: Wo Schildkröten sind, ist auch Glück. Für die Sandkastenfreundin gilt
das nicht unbedingt, sie hatte es später sehr schwer. Doch damals verlebten wir
beide eine unbeschwerte und glückliche Kindheit. In dem Haus, das noch genauso
aussieht wie damals, würde ich mich überall noch zurechtfinden, seinen
Grundriss könnte ich sofort aufzeichnen.
Überhaupt zeichneten wir damals immer wieder Grundrisse, die
Freundin und ich – ich war ständig mit im Architektenbüro, als unser „Häuschen“
(wirklich, ein kleines) gebaut wurde. Kaum zu glauben, dass wir drei Jahre (die
Freundin) und vier Jahre (ich) waren, als wir mit den Grundrissen begannen.
Eine freundliche Architektin hatte es mir erklärt, und wir Kinder waren sofort
fasziniert. Die geometrisch-statischen Unmöglichkeiten würde ich heute gern
noch einmal ansehen, ich erinnere mich noch an ein riesiges Bad und ein Wohnzimmer
in Abstellkammergröße. Auf jeden Fall fühlten wir uns schon sehr erwachsen, und
tatsächlich wurde die Freundin später Gartenarchitektin und ich Designerin.
Die Straßennamen wirken alle noch „heimatlich“ –
ansonsten ist die Welt von damals doppelt und dreifach vorbei.
Der Bus fährt die hübsche, baumgesäumte Hauptstraße
entlang – und dann meinen Schulweg zum Gymnasium. Da ist manches nicht mehr hübsch,
die Straße ist ungemütlich ausgebaut, und es gibt Stellen, die mit
Schallschutzwänden so ausladend bestückt sind, dass es wirkt wie ein bedrohliches
Bühnenbild. Was mir noch als Architektur bekannt ist, verschwindet dahinter,
farblos und mickrig. Ein Haus an einer befahrenen Straße zu haben, die sich
ausbreitet wie ein Ungeheuer, Vorgärten frisst und hässliche
Schallschutzwände auskotzt, ist nicht schön; Opfergaben für den Autoverkehr
einzufordern, hat offenbar immer noch kein Ende gefunden.
Auf der rechten Straßenseite war mal ein
Restaurant mit Saal, da haben wir die Hochzeit einer anderen Freundin gefeiert,
mit Brautentführung und allem, was dazu gehört – das Lokal gibt’s nicht mehr,
die Ehe auch nicht.
Nach ein paar hundert Metern dann der Friedhof,
der evangelische auf der einen, der katholische auf der anderen Seite. Fand ich
als Kind schon blöd, diese Trennung. Noch mehr schockiert hat mich allerdings,
dass Gräber „eingeebnet“ werden, wenn der Vertrag nicht verlängert wird. Bis
heute will „ich“ deshalb dereinst auf keinen Fall auf einen Friedhof, und
meinte Eltern wählten, offenbar aus ähnlichen Beweggründen, anonyme Gräber. Ja,
das finde ich ehrlicher.
Vom Grab meiner Großeltern – hier in Schwerte – rettete meine Mutter für mich eine alte Platte mit unserem Namen, bevor es aufgegeben wurde. Der Grabstein selbst war zu schwer (und vermutlich wurde er zerkloppt … ganz übel). Ich erinnere mich, dass ich anhand des Grabsteins lernte, dass die 1920er Jahre zeitgemäßer und innovativer waren als das, was dann kam. Mein Großvater war 1934 gestorben, und man hatte eine Bauhaus-Schrift für den Grabstein gewählt.
Ich bin noch heute dankbar, dass meine kindlichen Warum-Fragen alle ernstgenommen
worden sind.
Zum Schluss noch an dem Haus vorbei, an dem mein
Vater als Jugendlicher gewohnt hat. Direkt an der Bahnlinie. „Und dann musste er
in den Krieg, fuhr als Soldat mit dem Zug direkt am Haus seiner Mutter vorbei
und wusste nicht, ob er sie jemals wiedersieht“, erzählte mir meine Mutter
einmal. 18 oder 19 war er da, hatte gerade seine Aufnahmeprüfung für Musik
bestanden. Was für eine beschissene Welt.
Und nun, endlich, der Bahnhof Schwerte. Auch
alles heimatlich, hier, in Schwerte, lebte ein Großteil meiner Familie, zeitweise vierzehn
Personen und jetzt nur noch eine – ich selbst war immer nur Gast in der Stadt,
habe hier nie gewohnt. Aber neun Jahre war ich Schülerin am hiesigen Ruhrtal-Gymnasium.
Die Schulfreundin wartet vor dem Bahnhof. Ein paar
Erinnerungen werden wir wohl „aufwärmen“; durch viele andere bin ich gerade schon
gefahren: als geduldige Schildkröte mit einem Lächeln im Gesicht, manchmal sogar mit Schwanenhals am Busfenster.
Mein Rückweg nachher wird ganz anders ausfallen,
das menschliche Hirn ist doch deutlich kreativer als schwerfällige Apps … zumal
die vom ÖPNV.
(Anmerkung von später: ja, das ist wirklich so. Die eigene Idee wurde getestet
und für gut befunden!)
Bilder und Text: © Marlies Blauth
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