Kirche
und Esoterik – ein weites Feld
Wässerchen,
heilsame Lebensmittel, Sphärenklänge, Handauflegen, blumige Worte, farbiges
Licht, skurrile Versprechen für die Zeiten nach dem Tod – der esoterische
Supermarkt ist riesig und bietet alles, was die Seele (scheinbar? anscheinend?)
braucht. Und in der Tat, man kann viel Geld verlieren, wenn man sich darauf
einlässt; entsprechend nachdrücklich sind die Warnungen vor zu wenig Gegenwert,
vor Rosstäuscherei. Nicht wenige Menschen lassen sich von den Warnern
überzeugen. Und sie treten aus der Kirche aus.
Diakonische Aufgaben, ja gut, sagen viele in
meinem Freundeskreis. Aber spenden können wir auch ohne Kirchenmitgliedschaft.
Und wenn wir mal wieder eine Predigt hören wollen – da wird ja auch manches
Vernünftige gesagt –, dann gibt es die im Internet. Aber Gottesdienst: nee. Siehe
Textbeginn oben – Taufe, Abendmahl, Orgelmusik, Segen, Gebete, besondere Ästhetik,
Glaube an die Auferstehung: Das ist Hokuspokus, der nicht mehr in unsere Zeit
passt. Eins meiner Kinder monierte kürzlich, der Gedanke, Leib und Blut Christi
zu sich zu nehmen, sei nun doch zu gruselig.
Das kann ich verstehen, wenngleich ich aus
einer ganz anderen „Ecke“ komme. Protestantisch aufgewachsen, war ich zeitlebens
irgendwie – beinahe zu –
kirchenaffin, immer neugierig, mitunter auch kreuzunglücklich (zum Beispiel über nicht praktizierte Ökumene, ja,
meine Großmutter Marie soll es noch abgelehnt haben, bei der katholischen Taufe
meiner Cousine zugegen zu sein). Mein Glaube ist bis heute mystisch eingefärbt –
warum auch immer. Im Grundschulalter weigerte ich mich strikt, den Kindergottesdienst
zu besuchen. Denn da gab es nicht die – damals gesungene – Liturgie, die mich
so sehr berührte, dass ich stundenlang hätte zuhören oder mitsingen können.
Auch die Evangeliumslesung „traf“ mich – während ich mit kindgerechten
Gestaltungsformen überhaupt nichts anfangen konnte; mit ausufernden Predigten
übrigens auch nicht, nie. Ich meine es herzensehrlich: Der Gottesdienst war für
mich immer eine inspirierende Kommunikation mit (heute sage ich: dem
dreieinigen) Gott, geheimnisvoll und bekannt gleichermaßen, ein kurzer Blick in
die Ewigkeit mit gleichzeitiger Verbindung zu den Wurzeln, zur Vergangenheit.
Und während ich hier nach Worten suche, mit
denen ich das eigentlich Unbeschreibliche zumindest anreißen kann, wird mir
wieder einmal klar: Ohne „Esoterik“ kriegt man das nicht hin. Denn wenn das Abendmahlsbrot
ganz klar symbolisch zu verstehen (und verzehren) wäre, verbäte sich –
vernünftigerweise – jede Assoziation mit Christi Leib. Dennoch wird es im Gottesdienst (meist) so gesagt. Nur als etwas
Geheimnisvolles, geheimnisvoll Bleibendes, Nie-Erklärbares wäre es folglich zu schlucken, aber da wir ja mittlerweile
so rational gepolt sind – Schule und Gesellschaft wollten, sollten es so –,
kommen wir gehörig ins Schlittern. Siehe oben: religiöser Schnickschnack, an
den man heute nicht mehr glauben kann.
Umso weniger glaubwürdig allerdings kommt jede distanzierende
Warnung vor der Esoterik bei mir an,
wenn sie durch Theologen und Kirchennahe ausgesprochen wird. Natürlich weiß ich,
was gemeint ist. Was ich aber nicht weiß: Wo genau verläuft die Grenze? Was ist
„erlaubt“, was ist verboten? Oder nein: Was würde man erlauben, was verbieten
wollen? Und welche Argumente gäbe es?
Ich gebe zu, dass mich eine (gelinde gesagt) sehr umstrittene Predigt (in St. Martini Bremen, 18.1.2015), wieder einmal auf diese
thematische Fährte gelockt hat: Da geht es – am Rande, zentraler Diskussionsanlass
war ja ein anderer – um den „Götzendienst“, den man Glücksbringern wie der
Christophorus-Plakette im Auto oder dem Glückspfennig im Portemonnaie entgegenbringt.
Aaaaberglaube also. Ich wette (wenn ich das jetzt überhaupt darf): Solche
Aussagen würden, wäre da nicht der intolerante Anhang der Predigt, auf breite theologische
Zustimmung treffen. Du sollst keine
anderen Götter neben mir haben. Ja. Aber ist das so? So gefährlich? Beten
wir denn eine Plakette an, wenn und weil wir eine haben? Oder ist es vielleicht
nur eine winzige Mahnung, möglichst so vor- und nachsichtig Auto zu fahren, als
trügen wir Jesus auf unseren Schultern?
Und überhaupt habe ich im Alltag einmal nachgeschaut,
was wir da alles so Unvernünftiges tun. Durch ein Ich-denk-an-dich wird keine OP weniger gefährlich, geht kein
Arztbesuch glimpflicher aus, gelingt keine Prüfung einfach-so. Wir sagen es
trotzdem (oder jedenfalls ein Äquivalent), und Gott sei Dank sagen wir es! Denn
quasi-heidnische Formel hin, Aberglaube her, es würde uns doch was fehlen, oder
nicht? Motivation, Mut, Positivstimmung. Meine liebe Mutter machte mir vor
schwierigen Klausuren immer ein „Kraftfrühstück“, das nannte sie wirklich so, etwas
Besonderes, Leckeres. Natürlich hatte es keinen Einfluss auf meine Leistung,
geschweige denn auf die Prüfungsfragen. Es tat aber: gut.
So ähnlich ist es ja auch mit dem fröhlichen
Schenken (Hochzeitstische, Geldgeschenke usw. mal außen vor). Rein rechnerisch geht
das eher ungünstig aus, ist daher also ziemlich unvernünftig: Ich bekomme
etwas, was ich mir so vermutlich nie gekauft hätte, und werde dafür etwas zurückschenken,
was der andere sich wohl nie zugelegt hätte. Aber gar nichts mehr schenken??
Keine Aufmerksamkeit mehr? Und was
ist mit den besonderen Geschenken von besonderen, vielleicht inzwischen
verstorbenen Menschen? Sind das dann schon Reliquien? Warum ist man traurig,
wenn das Ding runterfällt und irreparabel kaputt ist? Bildet man sich da etwa nicht
vorhandene Energien ein? Wo fängt Verehrung an, verwerflich zu werden?
Glück kann man im übrigen nicht genug haben. Warum
gelingen uns manche Tage, andere aber nicht? Wer Glücksschweinchen, -klee oder
-pfennig als unchristlichen Schnickschnack sieht, verschickt der auch keine
Geburtstagsglückwünsche? Keine zum Jahresbeginn? Muss zu solchen Gelegenheiten
immer und immer Gottes Segen herhalten? Wenn das Erhabene überdreht ankommt …
ist das gut? Ich lag mal einen Tag lang mit einer fiebrigen Erkältung im Bett.
Nicht schön, aber kaum der Rede wert. Der fromme Jugendgruppenleiter sprach ein
Gebet für mich. Als man mir das berichtete, musste ich ziemlich lachen. Es war
schlichtweg unangemessen (aber natürlich wusste ich die freundliche Absicht zu
schätzen).
Nun etwas anderes. Ja-ha, ich bin auch schon
mal in richtig esoterischen Gefilden unterwegs gewesen, ich oute mich: Vor
einigen Jahren war ich mal bei einem Wahrsager. Oder Hellseher, wie immer man
möchte. Das kam so: Ein Arzt stellte mir eine Hammerdiagnose, wobei er
feinfühligerweise bereits vom Sarg sprach, in dem ich – unbehandelt – ziemlich
bald landen würde. Das Warten auf die Zweit- oder Feindiagnose war für mich schier
unerträglich, da nannte mir eine Bekannte diese Adresse; ein Scharlatan sei der
Wahrsager nicht, nein, und als Honorar würde er auch eine Packung Katzenfutter
akzeptieren. Nun ja. Skurrile Geschichte; ich lernte, dass ein Esoteriker den
Nagel auf den Kopf treffen kann, während ein Arzt unter Umständen nicht mehr
ist als ein moderner Wahrsager, der den Kaffeesatz völlig falsch gelesen hat.
Und ich bin noch immer in der Kirche; trotz
Wahrsagerbesuch. Es gab auch nie einen Hinweis darauf, dass das eine das andere
ausschließen könnte.
Es gäbe noch vieles zu erzählen. Vielleicht,
dass ich – als Synästhetikerin – Klänge farbig sehe und manchmal auch schmecken
kann. Gut, das Phänomen ist wissenschaftlich belegt; es ist allerdings noch
nicht wirklich entschlüsselt. Das Pingponggeräusch eines Tischtennisballs
schmeckt für mich nach Fleischbrühe, ein A vermittelt mir ein wunderschönes
Rot. Und ich reagiere überhaupt intensiv auf Farben: Im blauen Pullover kann ich
gut rechnen, im gelben bekomme ich fettige Haare. Muss ich mir jetzt Sorgen
machen?
Nein, muss ich nicht. Die Götzen warten und
gieren schließlich ganz woanders. Macht und Reichtum anhäufen, Menschen
drangsalieren – so hießen die inakzeptablen Götter früher, heißen sie heute.
Wer mir und anderen vorschreiben will, wie ich zu glauben habe, vereinnahmt bereits
und übt Macht aus. Glaube ist Freiheit, weil er mir meine Möglichkeiten eröffnet,
und er zieht Grenzen, damit ich die Freiheit der anderen nicht störe.
Marlies
Blauth
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