Samstag, 29. Dezember 2018

Mit weißen Stiefeln auf der Traumstraße. Erinnerung an Dortmund. [Kurzprosa]








1972, da passten die Stiefel schon nicht mehr







Mit weißen Stiefeln auf der Traumstraße


Nein, ich bin nicht über die Traumstraße gelaufen oder getanzt – ich habe gewartet. Auf meinen Vater und aufs Anziehendürfen meiner neuen weißen Stiefel.

Die ausgebaute Bundesstraße 54, die den Dortmunder Süden mit der Innenstadt verbindet, hatte man Ende der 1950er Jahre angelegt. Diese Zeit, als breite und autobequeme Straßen winkenden Wohlstand verkörperten, gab ihr den poetischen Namen Traumstraße. Sagt man ihn heute überhaupt noch?

Mir war es lieber, wenn wir über „die Dörfer“ fuhren (also durch Hörde), was mein Vater jedoch meist zu umständlich fand. „Fährste die Traumstraße“ sagte meine Mutter jedesmal, ich weiß bis heute nicht, ob sie das fragte oder feststellte und warum überhaupt. Vielleicht fand sie das Wort auch einfach schön, wer weiß.

Diesmal war meine Mutter aber nicht dabei, was ich ausgesprochen praktisch fand. Denn ich war gerade dreizehn und konnte, ganz planmäßig, meinen Vater dazu überreden, mir weiße Stiefel mit richtigen Klack-klack-Absätzen zu kaufen. Meine Mutter hätte mich ja wohl wieder in die Kreppsohlen-Abteilung geschickt – furchtbar.

Nun fuhren wir also mit der kostbaren Beute zurück nach Hause, ich mit einem wunderbaren Gefühl aus Stolz und Freude und Traum (allerdings war auch ein bisschen Wie-sag-ichs-meiner-Mutter untergemischt); wir schwebten vorbei am Rombergpark, Tierpark … SCHEISSE! tönte es plötzlich. Mein Vater, sonst immer gewissenhaft und vorsorgend, hatte vergessen zu tanken, das kleine knatterige Auto gab mangels Energiezufuhr gerade seinen Geist auf.
Kleine Hektik auf dem Standstreifen. Mein Vater stieg aus. Auf dem Radweg nebenan, der mir noch nie aufgefallen war, stoppte er eine Gruppe von drei Radfahrern, holte einen kleinen leeren Kanister aus dem Kofferraum und schwang sich aufs spontan geliehene Rad, um zur nächsten Tankstelle zu fahren. Mir gab er noch mit: „Wenn die Polizei kommt, dann sag …“.

So saß ich also einsam und allein in meinem Gehäuse. Links rauschten die Autos an mir vorbei (und ich betete, dass sie wirklich vorbei fuhren), rechts hampelten die drei jungen Männer herum. In jeder Sekunde drohte eine freundliche Anfrage der Polizei. Alles surreal, wie in einem Traum. Die Stiefelbeute war nur noch ein unscheinbarer Karton, der unwichtig im Auto herumlag. Wo war die nächste Tankstelle?

Ich glaube, es handelte sich nur um zehn Minuten, denn zur damaligen Zeit gab es viel mehr Tankstellen als heute. Aber diese zehn Minuten waren sehr lang.

Doch dann ging alles ganz schnell. Mein Vater bezahlte sein Leihfahrrad (fürstlich, wie ich ihn kenne), tankte nach und fuhr los. „War hart anne Kante“ … murmelte er.


Die mütterliche Reaktion auf meine Stiefel fiel zurückhaltend aus: „Damit kannste doch gar nicht laufen“.

Tatsächlich fiel es nicht ganz leicht. Sie passten auch gar nicht lange, die tollen teuren weißen Stiefel, denn meine Füße wuchsen damals sehr schnell.  







© Marlies Blauth














1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Schöne Story👍😊