Lurchi
Tiergeschichten, merke ich gerade, habe ich bisher selten oder nie gebloggt.
Die Begegnung mit Lurchi hat es allemal verdient, erzählt zu
werden. Sie fiel mir ein, als eben bei facebook jemand Fotos von Froschweihern
im Schwerter Wald postete – einem Waldstück, das sich auf der Grenze zwischen
dem Süden Dortmunds und der benachbarten Kleinstadt Schwerte befindet.
Ganz in der Nähe dieses Waldes wurde ich geboren (und getauft),
wurde natürlich im Kinderwagen über seine Wege geschoben und lernte Schrittchen
für Schrittchen seine Flora und Fauna kennen; dann zogen wir um, aber nur an die
andere Seite des Waldes, so dass er mir erhalten blieb und ich ihn bald kannte
„wie meine Westentasche“ (das heißt ich hatte nie eine). Man hätte mich
irgendwo aussetzen können, ich hätte sofort nach Hause gefunden.
Gesehen habe ich Frösche, Kröten, Molche, Blindschleichen und
auch Feuersalamander. Meine Mutter behauptete energisch, nein, in dieser Gegend
gäbe es keine Salamander, da hätte ich mich geirrt (ich nehme fast an, sie
meinte Eidechsen – für die wäre der Schwerter Wald wohl wirklich nichts
gewesen). Aber natürlich erinnere ich mich genau an die kleinen Kerlchen in den
Dortmunder BVB-Farben. Und so, als wollten sie zeigen, dass sie sehr wohl „in
dieser Gegend existieren“, zwangen sie meine Mutter eines Tages regelrecht, sie
als Haustiere zu halten.
In meinem Elternhaus gab es einen Eingang zum Keller, der mit
seiner Ausrichtung nach Nordosten immer etwas glitschig-schattig war. Im Ablauf
oder Abfluss, in der Ecke vor der Eingangstür, stand im übrigen immer etwas
modriges Wasser, grau und ein bisschen fies. Genau diesen – aus Menschensicht –
unwirtlichen Mini-Teich suchte sich irgendwann eine Feuersalamanderfamilie als
Lebensraum aus. Als meine Mutter den ersten Schwarzgelben entdeckte, glaubte
sie natürlich, er sei unfreiwillig an diesem wenig attraktiven Ort und
„rettete“ ihn, brachte ihn zum Bach in der Nähe. Aber bald war er wieder
zurück, und meine Mutter fand dazu noch seine? ihre? stumpf-grauen Kinderlein,
die in diesem komischen Zuhause darauf warteten, größer und hübscher zu werden.
Und seitdem saß eigentlich immer ein Feuersalamander im Abfluss. Wir schlossen
daraus: Die wollen da sitzen, finden das schön. Das ging schätzungsweise zehn
Jahre so. Meine Mutter mit ihren Feuersalamandern: Manchmal berichtete sie, wie
groß die Familie gerade war, dann wieder machte sie sich Sorgen, weil es in
diesem dummen Kellereingang doch eigentlich nichts zu fressen gab, zumindest
aus Menschenperspektive nichts, fragte sich und mich, wie die Viecher dort
dermaßen lange überleben könnten. Natürlich wusste ich das auch nicht.
Schließlich war meine Mutter alt und starb; und als ich ihr Haus
startklar für einen neuen Besitzer machen musste, fiel mir im letzten Moment
noch Lurchi ein, der traurig in seinem Abfluss hockte. Konnte man denn sagen:
Achtung, da ist ein Lurch im Abfluss, gehen Sie bitte lieb mit ihm um? Klingt
doch etwas – hm, skurril, oder? Und wenn man nichts sagt … dann kriegt das
Kerlchen den Bauschutt der Renovierungsmaßnahmen auf den Kopf geschaufelt. O
nein. Also: Lurchi musste mit. Weit weg von seinem Tümpelchen, damit er nicht auf
die Idee kam, den Rückmarsch anzutreten. Ein Eimer stand bereit, gepolstert mit
feuchter Erde und Moospflanzen, Lurchi wurde sanft hineingesetzt, ein
Geschirrtuch zum luftdurchlässigen Deckel an den Ecken verknotet. Und dann
fuhren wir mit dem Zug, der Salamander und ich – bis an den Rhein.
Eine befreundete Journalistin schrieb dann einen herrlichen
kleinen Zeitungsartikel über das Tierchen, verbunden mit dem Aufruf, wer ein
amphibiengeeignetes Biotop habe, möge sich doch bitte melden. So war es dann. Wir
brachten Lurchi hin, sahen ihn im Schatten verschwinden, für immer, sozusagen –
und hoffen, dass er einen neuen Abfluss, ganz nach seinen Vorstellungen,
gefunden hat.
Marlies Blauth
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