Widerspiegeln
Wenn ich in den Spiegel schaue, dann sehe ich – dich.
Du schaust mich an, deutlich gealtert, manchmal stimmungsgedrückt,
trotzdem noch immer den Schalk in den Augen. Der bleibt – bis zum Schluss.
Ich habe, wie so oft, schlecht geschlafen. Wie du … und deine
Mutter und deine ältere Schwester. Das liegt in der Familie, fast alle Frauen
sind betroffen. Gedankenmäuschen,
schrieb ich in einem meiner Gedichte, die über die Herzbrücke laufen, die ganze
Nacht. Einmal gabst du zu, dass du mir – auf Anraten anderer – Contergan
eingeflößt hattest, als ich noch ganz klein war. Wie muss man sich als Mutter
gefühlt haben, als der Skandal öffentlich wurde!
Dieses ständige Hase-und-Igelrennen zwischen dem Annehmen eines
Rats und eigenem Entscheiden … Ganz oft hast du mir erzählt, dass dir Menschen,
nahe und ferne, ins Leben hineinreden wollten, wegen irgendwas mahnten, vom
Abstillen quatschten oder die Bauchlage priesen, überhaupt alles wussten,
Ernährung, Erziehung, Erfolg, Erfahrung.
Es war so schwer, die eigenen Vorstellungen zu leben, sagtest
du. Heute würde ich vieles anders machen.
Ich möchte sagen können: Fast alles würde ich noch einmal genauso
entscheiden. Alles daran zu setzen, das habe ich von dir gelernt! Irgendwann
hast du mich dafür bewundert, beneidet. Ich muss dir sagen: Es war nicht
einfach. Du wolltest immer, dass ich freier aufwuchs als du, aber die anderen
waren übermächtig, der Nachhall ihrer Mahnungen hielt sich Jahrzehnte, und du
warst eine ihrer Marionetten, mit mir an der Hand.
Zuletzt wollten sie ein Kreuz für dich auf der Todesanzeige, weil das so üblich ist –
du hast keins haben wollen, nein, auf gar keinen Fall. Ich hätte
dir einen Frosch oder einen Hampelmann drauf gesetzt, wenn du das gewünscht
hättest.
Streit, wo keiner hingehört. Ich habe Wuttränen geheult für
dich. „Zimperlich,“ sagte die Tante.
Nach dem Begräbnis, nach der Haushaltsauflösung – mit der
Spitzhacke Kindheitsjahre zerstören, du weißt –, bin ich ganz leise gegangen,
ich ertrug die Enge nicht länger.
Wenn ich jetzt in den Spiegel blicke, sehe jedesmal dich – und mit
deinem schalkhaften Lächeln stimmst du mir zu.
Bild und Text © Marlies Blauth
2 Kommentare:
Liebe Marlies, nun kenne ich ja Deine Geschichte ein wenig und könnte Dich umarmen, bei diesem Text.
Es war, was war und es ist wie es ist - manchmal möchte man morgen vieles anders machen. ... doch die Vergangenheit geht irgendwie nicht aus dem Kopf.
Alles Liebe,
Michael
Danke, Michael. Dieser Text entstand in einer Schreibwerkstatt - Thema: im Spiegel.
Und ja, ich sehe meiner Mutter immer ähnlicher, das fällt mir bei jedem Blick in den Spiegel auf. Hier eine Skizze der Gedanken, die mir dann manchmal durch den Kopf gehen.
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