Montag, 28. September 2020

#Kohlestaub Tagebuch | 8

 




Ein Sonntag in der Pauluskirche, Dortmunder Nordstadt


Corona strichelt noch immer Termine aus, wie erst vorgestern wieder, als eine Ausstellung abgesagt wurde, in die ich eigentlich einjuriert war. Für die ich bereits Bilderrahmen und Passepartouts gekauft hatte.

Umso mehr weiß ich es zu schätzen, wenn Veranstaltungen wirklich stattfinden (dürfen, können), vor allem, wenn es zusätzliche sind, gar nicht von langer Hand geplant, und zu denen man freundlicherweise eingeladen wird.

 




So bin ich an und in die Pauluskirche gekommen. Man sieht sie jedesmal, wenn der Zug den Dortmunder Bahnhof erreicht – oder verlässt, je nachdem. Außen neugotisch, innen nach Kriegsbeschädigungen sehr schlicht. Gemäß verschiedener architektonischer Kirchbau-Programme steht vorne über dem Altar eine riesige Orgel (von 1994). Ich bin da immer zwiegespalten, einerseits wird der Raum eigenartig verändert und stellt die Musik (zu?) sehr in den Fokus, andererseits mag es hier genau stimmen, denn diese Kirche hat solch ein regenbogenbuntes Kulturprogramm, dass die Orgel ins Blickfeld passt. Betont spirituelle Räume sind woanders vorhanden, hier ist man lebenspraktisch und probiert ungewöhnliche Konzepte aus. Und so ganz verschiedene Profile von Kirchen und Kirchengemeinden sind, meine ich, genau das, was die Zukunft braucht.

 



Ich packe also meinen Koffer mit Kunst. Nur kleine Formate, denn es wird keine Ausstellung, sondern eher ein kleiner Markt. Eine Präsentation jedenfalls; alles in dieser Richtung ist im Moment wichtig für uns Künstlerinnen und Künstler.

Der Koffer ist so schwer, dass ich ihn kaum tragen kann, aber eine Fahrt mit dem Auto wäre ökologisch kaum vertretbar. Treppen mit dem Ding zu bewältigen, ist schon grenzwertig. Aber nun rolle ich meine Last fast gemütlich in Richtung Kirche, wie gesagt, sie steht so bahnhofsnah, dass der Fußweg ein Klacks ist.

Wer keinen eigenen Tisch mitbringen konnte (oder eine Staffelei oder eine Stellwand), bekommt zwei Tischplatten über zwei Kirchenbänke gelegt – zack, hält. Der Pfarrer hilft mit tragen, einer trage des anderen Last, ja. Das ist sympathisch. Der seltsamste „Messestand“, den ich bisher bespielt habe, und ein ganz wunderbarer. Vor allem aber ist die Atmosphäre so, dass ich Corona eine Zeitlang fast vergesse; ganz wichtig für mich, ich sauge das auf wie ein ausgetrockneter Schwamm. Die Statuten werden kurz erklärt, im selben Atemzug erfahren wir aber auch, was wir dürfen. Das ist viel wert. Wenn keine drückende Stimmung aufgebaut wird, kann es sogar auch zwischendurch spaßig sein zu rätseln, wer hinter seiner Maske steckt: Ich bin bei diesem fröhlichen Ratespiel nicht gut, stelle ich fest, ich gehe vor allem über Stimme und Sprache. Ist mir neu; das hätte ich, so als Augen-Mensch, nie vermutet.

Besonders zu erwähnen aber ist der „Corona-Einbahn-Parcours“ durch die Räumlichkeiten, beispielsweise mit dem Ziel: WC. Dessen Zugang liegt in direkter Sichtweite von meiner Kirchenbank aus, wie alle anderen muss ich aber längs durchs Kirchenschiff wandeln, um dann auf schnörkeligen Wegen an den Toiletten vorbei zu laufen, ein Treppchen hoch, ein Treppchen runter, raus durch einen (vermutlich: Not-)Ausgang, um dann über die Draußenpfeile zum nächsten (Neben-)Eingang geleitet zu werden. Dort wieder rein. Irgendwie, man möge es mir verzeihen, fühle ich mich für einen Moment wie auf einem Kindergeburtstag. Das liegt auch daran, dass die Kirche ja nicht klein ist und man durch die vorgeschriebenen Um- und Abwege in Gefilde kommt, die sonst verschlossen sind. Vor allem ist es das kurvenreiche Taptaptap – Tiptiptip, so, als würde am Ende die Zeit gestoppt und für die Gewinner eine Süßigkeit winken.

Ja, es gibt Zauberworte, die eine Stimmung auflockern können, ohne dass sie sich vor Verantwortung drücken. Machtworte wären da der Gegensatz; die mag ich nicht und brauche ich nicht, schon gar nicht als Schwall aus der Gießkanne, der Menschen trifft, die umsichtig sind und willens.

 





Meine Kohlestaub-Bilder habe ich nicht mit, nur ein paar Miniaturzeichnungen. Die Situation hier erfordert Farbe: Pink zu Blaugraugrün, Mohnrot zu hellgelb. Der Pfarrer betont auch mehrfach, wie sehr er sich über seine gerade so bunte Kirche freut.

 







Ich sage wieder einmal ein herzliches Dankeschön an „die“ bzw. eine Evangelische Kirche. Auch wenn es auf der allgemeinen Ebene einiges gibt, was man diskutieren könnte und auch müsste, so sind manche Erfahrungen wie diese ausgesprochen positiv.

Hier werden wir durch gute Organisation „verwöhnt“, übernommene Kosten, bereit gestellten Kaffee und Tee, und last not least durch ein qualitativ gutes, begleitendes Musikprogramm.

Danke für die Gastfreundlichkeit und die Offenheit für „Zeitgemäßes“, in diesem Fall eine besondere Art der Corona-Hilfe. Danke an alle, die sich für diesen Sonntag Zeit genommen haben.

 

Mein Koffer ist kaum leichter geworden, müde hieve ich ihn die Dortmunder Bahnhofstreppen hoch. Aber ich weiß es zu schätzen, ein paar „Minis“ und zwei Gedichtbüchlein verkauft zu haben. Und meine Visitenkarten führen ja auch manchmal zu einer Visite im Atelier, wer weiß.

 

 

 





Marlies Blauth | 27. September 2020

 

Text und Fotos © Marlies Blauth

 

 






Dienstag, 22. September 2020

#Kohlestaub Tagebuch | 7

 





Phoenix West

 

stolze Gerippe

in einer Landschaft aus Dorngestrüpp

und einsamen Zufahrtsstraßen

aus breitem Asphalt

regnen Rost

über deine Erinnerung:

weißt du noch –

am Himmel das Engelrot

über den Häusern der Kindheit?











 









 Marlies Blauth | 22. September 2020

 

(Fotos: 22.9.20; Gedicht: auf einer Postkarte der Literarischen Gesellschaft Bochum, 2018 - © Marlies Blauth)










 


Sonntag, 20. September 2020

#Kohlestaub Tagebuch | 6

 


Diesen Klängen folgen


Heute Probelesen / Generalprobe für die Museumsnacht ’20 in der Stadtkirche St. Petri in Dortmund.

Die DB-Hauptstrecke dahin ist gesperrt, also fahre ich auf einer Nebenstrecke durch das nördliche Ruhrgebiet, was ich immer schon vorhatte.

 

 




Nördliches Ruhrgebiet

im Spätsommerlicht

 

Manche Häuser tragen noch

ihre grauen Mäntel von damals

während die weiß gewandeten

ungewohnt leuchten

 

Die Natur berauscht sich

an vergessenen Mauern

verschlingt sogar die Graffiti

wie schön

 




 


Grund der Sperrung sind die Folgen eines Tanklaster-Unfalls, durch den zumindest eine von mehreren Eisenbahnbrücken so stark beschädigt wurde, dass sie abgerissen werden muss. Der Fahrer hatte die Kontrolle verloren, der Laster ging unter den Brücken in Flammen auf.

„Der war sprittig“, sagt einer im Zug – wieder ein Beispiel dafür, mit wie wenig Silben man im Ruhrgebiet auskommen kann. Ich sage dasselbe mit spitzer Schnute, so wie es in der Zeitung steht: Der Fahrer hatte Alkohol getrunken.

Als mein Gegenüber aussteigt, irgendwo bei Herne, sagt er: „Tüss, gezz gehtet inne Bronx“. Ich mag diese Art Humor, so kurz und trocken; so ist das eben(t), wenn man damit aufgewachsen ist: Emotionen sind nur portiönchenweise zugelassen. 

So richtig will es nicht passen, dass ich in dieser Atmosphäre einige Gedichtfragmente bearbeite. Andererseits macht mich die lebhafte Stimmung, die hier aufkommt, selbst lebendig, ich fühle mich inspiriert. Anscheinend lassen sich die Menschen durch ihre verordneten Masken nicht mehr bremsen und reden einfach, so wie früher – wobei ich mich frage, ob es virologisch günstig ist, durch eine Maske Dauergespräche zu führen. Allerdings sollte man sich einem Schweigegebot nur freiwillig unterwerfen; der Mensch ist zum Dauerschweigen prinzipiell nicht geschaffen. „Dat neue Stellwerk kannze wegschmeißen, bis dass die Brücke fertig ist, dauertes Jahre“, höre ich noch und habe beinahe Mitleid mit dem angetrunkenen Fahrer, denn die Schäden seiner Verfehlung gehen ins Unermessliche. Scheinbar kleine Ursache … mit monströsen Folgen.

 

Ich habe noch etwas Zeit bis zur Probelesung und beschließe, mir eine Ausstellung in der BIG-Galerie anzusehen; doch wegen Corona muss ich, wie alle anderen Interessierten, draußen bleiben. Das ist umso deprimierender, als man durch die Fenster erkennen kann, dass da im Galerieraum eine Ausstellung installiert ist. Arme KollegInnen. Immer wieder macht Corona einen Strich durch die Rechnung, wieviel Planung und Arbeit haben wir alle nun schon in Projekte gesteckt, die dann nur „halb“ oder gar nicht stattfinden können.

Ein Second-Hand-Laden ist ebenfalls geschlossen. Ich steuere „den Kaufhof“ an, weil ich nach einem Küchengerät schauen will; er wird bald für immer aufgegeben und ist daher zu einer gruseligen Resterampe mutiert. Die Riesenräume sind schon halb leer, die Waren, einst schön ordentlich präsentiert, sind nun ohne Sinn und Verstand zusammengeschoben. Ein Haus, das ich noch aus Kindertagen kenne … so schade. Ich verfluche die Internetkäufe. Für bestimmte Dinge, zum Beispiel Ersatzteile, finde ich sie sinnvoll, aber ansonsten bin ich lieber old-school und mag Schuhe lieber rechtzeitig anprobieren und Materialien sehen und anfassen, bevor ich etwas kaufe.

 

Direkt gegenüber befindet sich die Petrikirche. „Was für eine leere Kirche“, sagt ein Kollege. Ja, sie ist nüchtern (obwohl sie ja nicht leer ist: Es stehen einige Heilige herum), wäre da nicht das „Goldene Wunder von Westfalen“, dieses Meer aus Gold, der lichtgleißende Altar aus Antwerpen, gefertigt in der Reformationszeit (und, jede Wette, davor noch in Auftrag gegeben).




Heute zeigt dieser Altar allerdings nur eine seiner bescheideneren Ansichten – mit Malerei. Auch schön, doch die strahlt nicht dermaßen intensiv in den farblos-lichten Kirchenraum.

Nun stehe ich vorn im Altarraum und staune über die ungewohnte Perspektive, wie immer, wenn ich in Kirchen lese.


Wir alle müssen beim Vortragen mit dem heftigen Nachhall des Raums zurechtkommen und so langsam lesen, dass wir das Programm kürzen müssen. Meinen Part lese ich fast verzagt, denn ich höre sicher ganz andere Nuancen als das Publikum, das heute aber ja noch nicht da ist und nur aus einzelnen herumwandernden Leuten von uns besteht. Interessant ist wahrzunehmen, wie der Kontext des Ortes die Texte verändert; wir hatten sie ja schon 2019 auf dem Kirchentag gelesen, in zwei verschiedenen Räumen, aber nicht hier; die mittelalterliche Kirche scheint nun mitzusprechen, ja regelrecht hineinzufunken.

Unsere Texte befassen sich mit Orten in Dortmund. Über einigen scheint „mein“ Kohlestaub zu liegen, andere entsprechen dem Ruhrgebiet der Gegenwart. Nur in dieser Stadt kann man sie lesen, woanders werden sie wohl kaum verstanden.




Wir fragen uns, wie viele der Stühle, die angeordnet sind, wie Kinder Straßenbahn spielen, morgen besetzt sein werden. Corona bestimmt bis in die letzten Ecken auch die Ästhetik, von geklebten Abstandhaltern, gebastelten Wegweisern über Plexiglas-Barrieren bis hin zu kruden Sitzordnungen. Auch die neuen Anmelde-Rituale nehmen viel Einfluss; spontane Entscheidungen gibt es so gut wie nicht mehr, hier müssen digital Tickets gebucht werden – eine Barriere, die es vor kurzem noch nicht gab, zumindest bei diesen „kleineren“ Veranstaltungen nicht. Vielleicht sind wir mit sechs Lesenden morgen die Mehrheit, wer weiß. Aber alle sind sich einig: Egal, wie es wird, wir haben gern zugesagt.

 

Wir gehen noch ein Bier trinken, in einem Biergarten im Westpark. Dort war ich das letzte Mal als Achtzehnjährige, ich staune über den schönen Park mitten in der Stadt.
Meine Pommes frites muss ich mir mitgeben lassen, die Brutzelei dauert einfach viel zu lange, wegen der Bahnstreckensperrung möchte ich nach Hause aufbrechen. So esse ich die Pommes im Gehen, ich glaube, das habe ich zuletzt als Jugendliche gemacht. Ja, ja, und im Schatten der Liebfrauenkirche, an der ich nun essend vorbeikomme, habe ich damals – ungern – eine Zigarre geraucht, die wurde mir während eines Gemeindefestes angedreht von dem Freund meines Freundes. Heute wäre das aus zweifachen Gründen nicht mehr möglich: Es gibt (zum Glück) keine Zigarren mehr auf Kirchenfesten zu kaufen, und die Liebfrauenkirche feiert solche Feste überhaupt gar nicht mehr; sie ist seit einigen Jahren Kolumbarium, Grabeskirche, ohne Gemeinde.

 




Das Pommes-Schälchen ist geleert, ich laufe schnurstracks zum Bahnhof. Morgen the same procedure oder jedenfalls eine ganz ähnliche.

Zu Hause wartet eine riesige Sendung mit Kunstmaterial … dem Stipendium sei Dank.

 

 


 

Marlies Blauth | 18. September 2020

 


Nachtrag: Die Corona-Hürden sind hoch, es kommt, wie wir befürchtet haben: ausgesprochen wenig Besuch. Schade.

Aber so problematisch die Akustik des Raums für die Lesenden sein mag, so freundlich lässt sie den Applaus auch von Wenigen donnern – man kann regelrecht drin baden. Und wir bekommen auch verbal sehr gute Reaktionen. Deswegen, trotz Corona / wegen Corona: Es hat Spaß gemacht, und wir freuen uns riesig über eine erneute Einladung für das Jahr 2021.

 

Text und Fotos © Marlies Blauth












 


Über die blaue Steppe | Ein literarischer Jubiläumsgruß nach Pjatigorsk

 









Über die blaue Steppe

Hrsg. Matthias Engels, Thomas Kade, Thorsten Trelenberg

Dortmunder Buch, Dortmund 2020

ISBN 978-3-945238-52-3

 

darin 3 Kurzgedichte von mir

Erlesenes – meine Weltreise – schreiben 




































Samstag, 12. September 2020

GYM 1 | × Hefte für Literatur als Kraftsport ×

 




GYM Heft 1 | 9/2020

 mit meinen Gedichten du, ich und Trockensommer