Die vielen Gesichter des Ruhrgebiets: Kettwig
Weil ich noch nie dort war, fahre ich heute hin – mit der S-Bahn, aus der
Düsseldorfer Richtung.
Herbstlandschaft unter grauem Himmel, gelbliche Farnbüschel an den
Böschungen: Nein, nicht meine Jahreszeit. Was viele den „goldenen Oktober“
nennen, empfinde ich als missmutigen Ockergelbmonat. Dieses Jahr kommt diese unsägliche
Kommunikationsarmut hinzu; was noch während der Freundlichkeit des Sommers weniger
auffiel, tritt nun zutage: Die Menschen sind vorzeitig müde, und während sie
Masken und Abstände geflissentlich taxieren, sehen sie jede Begegnung als
potentiell gefährlich an, denn der andere könnte ja Virenträger sein. Nicht umsonst
wird von „social distancing“ gesprochen; es scheint zu klappen. So schnell ist
alles anders geworden.
ich bin verschlossen
hoffe dass meine Wörter
nach innen gehen –
leise lesen
ist ja erlaubt
(oder laut zu Haus)
gerade habe ich
jemanden nicht verstanden
mit einem Handstreich
habe ich seine Sätze
fortgewischt
bin gegangen
der Tag ist verschlossen
er lächelt nicht
sperrt seine Türen zu
es ist Herbst
sagt er – Nachsaison
voller Müdigkeit
Doch die Landschaft ist schön. Kurz bevor ich aus der S-Bahn steige, sehe
ich Kettwig mit seinen markanten Kirchtürmen über der Ruhr thronen.
Und dann erfreue ich mich an den pseudo-gotischen Details des historischen Bahnhofs – wunderbar, wenn sich solche Gebäude über die Zeiten retten konnten. Auch der Weg zur Altstadt ist gesäumt von vielen alten Häusern, kleinen und villenartigen, doch mittendrin steht ein merkwürdig gekachelter Wohnklotz, dem man nicht abnimmt, dass seine Existenz je notwendig war. Woher nahm man den Optimismus, dass die 1970er Jahre alles besser konnten? Mit solchen Bauten haben sie sich ihr eigenes Mahnmal gesetzt.
Ich habe die Kettwiger Altstadt erreicht. Nanu? Ein typisch Bergisches Haus,
verschiefert und mit grünen Türen und Fenstern. Es ist das Haus im Engel,
und wirklich, hier lebte einmal ein Tuchfabrikant Von der Heydt. Auch von
Bandwirkern habe ich gelesen. Meine Jahre in Wuppertal kommen mir in den Sinn,
und auch, dass das Niederbergische Land offenbar bis Kettwig reicht. Darüber
hatte ich mir nie Gedanken gemacht, aber jetzt, da überhaupt kein
Ruhrgebiets-Feeling aufkommen will – obwohl die Ruhr doch in Sichtnähe ist.
Kettwig gehört zu Essen, aber das war nicht immer so. Man spürt es noch heute.
Die Marktkirche ist evangelisch-reformiert oder stand jedenfalls lange in dieser Tradition; man kann gerade nicht hinein, ich bin leider eine halbe Stunde zu spät, dafür zeigt die Infotafel draußen ein Foto des Innenraums („Bergischer Barock“) und weist auf den Geusenengel am Dach hin, der ein typisches Zeichen der reformierten Christen ist, die zum Teil als Religionsflüchtlinge kamen. Hier in Kettwig soll der Pfarrer allerdings einfach an einem Fronleichnamstag verkündet haben, dass er von nun an nicht mehr katholisch ist und seine Gemeinde folglich auch nicht.
Der Kirchplatz bietet einen wunderschönen Blick ins Ruhrtal und ist idyllisch umgeben von Fachwerk- und Schieferhäuschen. Kettwig war kaum kriegszerstört; seine Webereien und Spinnereien waren, im Gegensatz zu Kohleförderung und Stahlproduktion, nicht kriegsrelevant. Der Bunker, an dem ich vorbeikomme, spricht allerdings eine andere Sprache, wie ein Monstrum erhebt er sich über die hübschen, redlichen Häuschen. Genau an dieser Stelle beginnt es, das Ruhrgebiet.
Marlies Blauth | 9. Oktober 2020
Texte und Fotos © Marlies Blauth
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