Mittwoch, 14. Juli 2021

Zum Thema: Kirchenaustritt

 



Brief an jemanden, der die (evangelische) Kirche bald verlassen wird

 

 

Lieber S.,

es war nur eine Frage der Zeit, dass Du irgendwann gehen würdest. Ich kann diesen Schritt gut verstehen, bin aber gleichzeitig sehr traurig. Denn indem immer mehr Leute „austreten“, beginnt eine wichtige Säule unserer Gesellschaft und unserer Kultur empfindlich zu bröckeln, und das schmerzt mich. Es wird eine Leerstelle entstehen, die uns vermutlich allen nicht recht sein wird.

Schon lange stehen die Ersatzreligionen ja schon auf der Matte.

Wenn es wenigstens nur „die Esoterik“ wäre (wie man lange befürchtet hat)! Sie wäre ja, als ein Konglomerat aus Fantasie, Erfahrung und Suche nach Antworten vielleicht noch einigermaßen dem Menschen zugewandt.

Für deutlich gefährlicher halte ich die menschliche Selbstüberschätzung und die „Götter“ Geld, Macht und – seit neuestem – auch Gesundheit.

Wie nach einer liturgischen Agende verabschiedet man sich mit „Bleiben Sie gesund!“, und wie um zu betonen, dass man ja alles selbst in der Hand hat oder jedenfalls haben könnte, entsteht gerade ein neuer Gruß: „Und? Schon geimpft?“ Da bilden sich neue Gemeinden mit neuen Ritualen.

Jeder ist seines Glückes Schmied, heißt ein schon älteres Sprichwort. Natürlich: Wir haben alle irgendwelche Fähigkeiten mitbekommen, so meinte es auch Josef Beuys mit seinem Ausspruch „Jeder ein Künstler“. Diese Befähigungen sollte man nie verkümmern lassen, „von nix kommt nix“, das ist bekannt. Engagement muss sein, auch wenn es zwischendurch vielleicht auch anstrengend wird. Das hohe Maß an Sicherheit, das unser Leben im Moment auszeichnet, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Pläne aufgehen und sich der Erfolg wie gewünscht einstellt.

Das macht glücklich und generiert Achtung und Bewunderung. Doch: Die Halbwertszeit kann kurz sein. Wer möchte einen Freund oder einen Chef oder eine Schwester haben, die sich gottgleich fühlen und präsentieren? Weil sie – anscheinend – ihr Schicksal erfolgreich gelenkt haben? Wem würde das auf die Dauer nicht auf den Wecker fallen?

Und hier kommen Begriffe wie Gewissen und Dankbarkeit ins Spiel. Gewissen, weil der Erfolg, der auf Kosten anderer zustande kommt, immer fragwürdig ist (auch wenn diese Tatsache oft unter der Oberfläche bleibt). Dankbarkeit, weil sich eben nicht alles durch eigene Kraft so entwickelt hat; einmal zur anderen Zeit am anderen Ort, was hätte es möglicherweise für Abweichungen gegeben? Auf vielversprechenden Wegen kann man sich auch das Bein brechen. Manchmal hat man einfach fettes Glück, manches fügt sich gut, und ja, es gibt kleine und große Wunder – wie auch immer man es sagen will. Wem sollte man aber dankbar sein? Sich selbst??

Wie sieht es mit der eigenen Existenz aus? Vielleicht sind wir ja wirklich zufällig so entstanden, wie wir sind; die oben genannten Fähigkeiten haben wir – wie mit einem Schwaps aus der Gießkanne – erhalten; das, was uns individuell ausmacht, ist halt da. Aber manchmal sind wir trotz aller Zufälligkeit doch dankbar oder sollten es zumindest sein. Nur: Wem? Wir selbst hatten keinen Einfluss darauf, als welches Baby wir zur Welt kamen, wir waren nicht einmal fleißig oder „engagiert“. Unseren Eltern können wir zwar zu einem guten Teil dankbar sein, aber unsere individuelle Existenz (bei der Geburt, ab der Geburt oder sogar schon vorher) konnten sie auch nicht beeinflussen. Wenn es der Zufall war: Dann hat der doch eine Macht, eine Schöpfermacht, so dass es letztlich egal ist, ob wir Zufall sagen oder Gott: Es wäre hier dasselbe. Dieser Schöpfer(gott), egal wie wir ihn nennen, hat jedenfalls das Netzwerk Natur erschaffen, in das wir geboren werden und in dem wir leben. Das übersteigt unsere Vorstellung, aber wir können diese Kraft spüren und uns sicher sein, dass es nicht unsere eigene war und ist. Auch wenn wir unsere eigene Wirklichkeit selbst erschaffen (können) – die Voraussetzungen dazu wurden uns geschaffen.

Irgendwann kam die Formulierung auf „an sich selbst glauben“. Das war insofern richtig, als es früher pädagogische Maßnahmen gab, die vor allem der Einschüchterung dienten. Kinder hatten sich quasi zu entschuldigen, dass sie geboren wurden, und um wieder aufzuforsten, was damit so schändlich kaputtgemacht worden war, kam dieser Satz. Er ist folglich nicht falsch; er bedeutet aber nicht, dass dieses Selbstbewusstsein „gottgleich“ machen soll oder kann. Das wäre zwischendurch immer wieder einmal zu sortieren und zu relativieren.

Und dabei hilft Religion, die Weisheit der Religion. Unsere Ahnen hatten oft ähnliche Probleme und Aufgaben zu bewältigen wie wir, sie haben sich Fragen gestellt, sie bekamen Macht, wurden demütig, hatten Angst oder freuten sich, dankten Gott. Diese Verbundenheit, nichts anderes bedeutet Religion ja, mit der Menschheit bedeutet Verständnis, Gelassenheit, erweiterter Blickwinkel und vieles mehr; ist also relevant für uns selbst und für die Gesellschaft. Auch wenn ich die Quelle nicht mehr weiß: Es heißt, dass religiöse Menschen weniger schmerzvoll sterben.

Und diese Weisheit muss gepflegt, verwaltet und praktisch umgesetzt werden (diakonische, psychologische Aufgaben). Viele meinen, das ginge auch individuell, ohne Institutionen. Aber das halte ich für eine Sackgasse, das „Auffrischen“ klappt dann nicht mehr.

Natürlich hat Kirche viel falsch gemacht, und sie verrennt sich auch gegenwärtig irgendwie. Ich selbst habe einiges erlebt, was mich an den Rand des Kirchenaustritts brachte: sinnloses „Abkanzeln“, anti-katholische Blödsprüche, Überfrömmigkeit mit „höllischen“ Drohungen, Ungeschicktheit, lahme Verwaltungsapparate, „keine Zeit“ – Bagatellen, wenn man auf historische Fehltritte schaut. Aber im Rückblick muss man der Kirche doch auch in Rechnung stellen, dass sie beispielsweise im Bildungs- und Krankenpflegewesen Großes geleistet hat. Während einzelne Pfarrer ihren Beruf eindeutig verfehlten, gab es einzelne herausragende Persönlichkeiten, geprägt durch ihren Glauben, den sie im Alltag um- und eingesetzt haben, um Gutes, Wirkungsreiches zu tun. Oft war es der Pfarrer, der sich für eine gute Schul- und Weiterbildung eines Kindes einsetzte, das eigentlich als Arbeitskraft auf dem Acker vorgesehen war.

Wir KünstlerInnen – wie alle Kulturschaffenden – sorgen natürlich auch auch für Bildung, Weiterbildung, Persönlichkeitsbildung. Aber wir sind nicht ganz „frei“, weil wir uns auch den Gesetzen des Marktes unterwerfen müssen. Das braucht Kirche nicht zu tun. Sie muss nichts erfolgreich verkaufen; dort reichen Angebote aus. Aber die Leute der Kirche müssen auch „von was leben“. Manchmal wäre es besser, sie würden nach Leistung bezahlt, da gebe ich Dir recht. Siehe oben: Ich habe da einige Schoten erlebt, erwarte eigentlich eine grundsätzlich vorbildliche Haltung. Aber nun ja, mit LehrerInnen ist es leider nicht viel anders: Da gibts auch ein paar unfähige, deren Verfehlungen aber nicht groß genug sind, um sie loswerden zu können. Und die werden auch nicht nach Leistung bezahlt. Wie sollte man das auch nachhalten oder kontrollieren? Die Wahrnehmung ist ja höchst subjektiv, weil jeder Dialog auf persönliche Weise abläuft und Geschmäcker und gegenseitige Beeinflussungen/ Wechselwirkungen höchst unterschiedlich sind.

Ich komme noch einmal auf den Begriff der Weisheit zurück, und darauf, dass sie gepflegt und verwaltet werden muss: In der Bibel gibt es das Buch der Weisheit – für mich ist die ganze Bibel genau das, Literatur, in der viel Weisheit steckt. Bis ich das kapiert habe, musste ich mindestens Mitte Zwanzig werden. Die Wahrheit der biblischen Geschichten wurde uns in der Kinderzeit völlig falsch rübergebracht: So, als wäre alles genau-so geschehen. Dabei wird ja viel mit Bildern, poetisch-literarischen Bildern gearbeitet. Die Märchen sind da gar nicht weit weg. Das klingt komisch, einfach deswegen, weil man sie oft nicht so recht ernst nimmt. Aber sie sind auf ihre Art eben auch weise. Heutzutage erzählt man sie, wenn überhaupt, den kleinen Kindern – was aber falsch ist, denn die Märchen haben viele interessante Deutungsebenen, vieles, was ein Kleinkind überhaupt nicht ahnen kann. Mit den biblischen Geschichten ist es ähnlich, Kinder hören die „Sachverhalte“ heraus, Erwachsene sollten aber deuten (können). Das macht eine gute Predigt aus, diese Deutungen anzuregen, die alte Literatur zu „übersetzen“.

Du bist jünger als ich, hast noch wenig existentielle Fragen und Zweifel und Nöte gehabt. Lass Dir erzählen, dass einen jede Geburt an den Rand von Tod und Leben schubst, das Gefühl von Ausgeliefertsein und Nicht-Entscheidenkönnen generiert. Not lehrt beten, heißt es; es muss gar nicht die ganz große Not sein, es gibt aber Situationen im Leben, da gibt es einiges zu sortieren, Selbstdistanz aufzubauen, Kraft zu schöpfen und so fort. Ja, ich spreche manchmal mit Gott. Hoffe, dass ich ein frommer, nicht ein frömmelnder Mensch bin.

Wenn etwas gehörig schief geht … was dann? Du weißt, dass ich nach diesem Unfall damals psychologische Betreuung brauchte. Die habe ich sehr schnell von kirchlicher Seite erhalten. Es wäre wenig hilfreich gewesen, hätte ich ein halbes Jahr oder länger warten müssen. Das ging ohne jede Bürokratie und Bezahlung. Ich wurde um eine Spende gebeten, die ich aber erst nach etwa fünf Jahren abgeliefert habe, weil ich erst alles abgeschlossen wissen wollte. Wenn solche Einrichtungen (und viele andere, die ich nicht so direkt kenne) nicht mehr finanzierbar sind … sehr traurig.

Ich stand dreimal vor der Frage, ob ich der Kirche den Rücken kehren soll. Aber ich bin geblieben, vor allem weil ich ihre Aufgaben für essentiell halte. Wer sollte diese denn sonst übernehmen?

In meinem neuen Buch, das in Kürze erscheint, befindet sich u. a. jenes kleine Gedicht:

 

Entwidmung

 

ich nehme

ein Panoramafoto der Stadt

übermale tilge die Kirchen

den Dom

du fragst wo wir sind –

ich sage: gar nicht weit weg

 

 

Ja, und das finde ich schade. Kirchen sind auch Wegmarken.


Es grüßt Dich

Deine M.





 


Keine Kommentare: