Samstag, 29. Januar 2022

Erinnerung an meinen Vater






Vor einiger Zeit hatte ich – im Rahmen eines Muttertags – eine Erinnerung an meine Mutter notiert. Obwohl das heutige Datum nichts mit meinem Vater verbindet, schreibe ich jetzt über ihn.

 

 

 

Erinnerung an meinen Vater

 

Wir hätten, da bin ich mir sicher, zusammen meine Gedichte gelesen. Irgendwann später hätte er sich an sein Klavier gesetzt und eins, das ihm rhythmisch gefiel, improvisierend vertont. „Hör mal dein Gedicht … gefällt dir das so?“

Meine Mutter war die Impulsive, Alltags-Kreative, Lebhafte – mein Vater in gewisser Weise ihr Gegenpol: er strahlte Ruhe aus, tat nie etwas Unüberlegtes. Gleichwohl war er ein Herzensmensch. Seine hohe Sensibilität habe ich wohl von ihm, wir beide entdeckten immer das Kleine, Unscheinbare, lasen beide, was zwischen den Zeilen steht, erspürten vieles, wobei meinem Vater immer wichtig war, nicht ins Hypothetische abzudriften, sondern immer auch eine rationale Basis zu schaffen. Kunst ist eben, genauso wenig wie („seine“) Musik, nicht etwas, was man disziplinlos und ohne Vorkenntnisse „aus dem Ärmel schüttelt“; Substanz und Können – auch oder sogar gerade das, was man sich antrainieren kann – waren ihm wichtig. So gab es keinen Tag ohne sein Klavierspiel, obwohl er nur ein Musiklehrer war und keine Konzerte gab.

An besonderen Tagen, beispielsweise an meinem Geburtstag, wurde ich mit einem Lied geweckt. Wie gut, dass ich im Spätsommer geboren bin, ansonsten wäre das Schrapp-Schrapp im Keller, sein morgendliches Einschaufeln der Kohlen in den Heizungsofen, dem Klavierspiel zuvorgekommen.

Nachmittags gingen die Stücke dann quer durch die Musikgeschichte. So lernte ich schon früh, Komponisten oder jedenfalls Epochen zu erkennen, und es war keine Frage für mich, „später“ auch einmal Musik zu machen. Als dann daraus doch nichts wurde, reagierte mein Vater traurig, denn er sah wohl, dass meine Musikalität vielleicht ausgereicht hätte. Es mangelte mir allerdings an Geduld und Disziplin: Täglich eine Stunde (oder so) zu üben, war meine Sache nicht. Heute weiß ich, dass mir die reproduktive Tätigkeit nicht liegt; damals hatte ich den Drang zu komponieren, wusste aber, dass die Beherrschung eines Instruments Voraussetzung dafür war. So weit würde ich aber eben nie kommen.

Währenddessen konnte ich mich stundenlang mit Farben, Formen und Texten beschäftigen. Das sah mein Vater wohl auch, und mein Argument, ich wolle mit dem Klavierunterricht aufhören und dafür ein Pendant in der Kunst suchen, überzeugte ihn. Damals gab es allerdings kaum eine Möglichkeit, Kunstunterricht außerhalb der Schule zu erhalten, es existierten noch keine Malschulen (heute sage ich: glücklicherweise), und mein Vater sorgte dafür, dass ich mit 14 Jahren Unterricht bei zwei Hochschullehrern an der FH Dortmund bekam. Das war ein ganz großer und wichtiger Schritt für mich; auch wenn mein Vater nicht empfand und dachte wie ein Bildender Künstler und ihm vieles fremd war, wusste er doch, dass alles mit allem zusammenhängt und dass ich letztlich nur eine andere Form der künstlerischen Äußerung gewählt hatte als er.

Meine Gedichte hingegen lernte er nicht mehr kennen; ziemlich genau zehn Jahre nach seinem Tod veröffentlichte ich das erste, und meine „Schubladengedichte“ hatte ich ihm nicht zeigen mögen.

Ich bewunderte ihn immer für seine philosophischen Kenntnisse. Warum ich selbst dermaßen philosophieblind bin, habe ich nie herausbekommen, vielleicht bin ich einfach zu dumm. Aber unsere Gespräche waren oft interessant, ich partizipierte gern an seinem Wissen. Schon als Grundschülerin merkte ich, dass meine drängenden Fragen – hauptsächlich historische und theologische Inhalte betreffend – bei ihm immer mit einer Antwort rechnen konnten. Mein Vater war ein „frommer“ Protestant (er hatte zeitweise auch als Kirchenmusiker gearbeitet), der allerdings nie Frömmelndes von sich gab, sondern ehrlich bemüht war, Glaubensinhalte zu leben, anstatt darüber zu predigen. Mein Vater gab mir Maßstäbe moralischen und ethischen Verhaltens an die Hand, immer plädierte er für Gerechtigkeit und Verständnis, gegen Hass und Häme. Das anständige Benehmen, das er mich lehrte, hatte nichts mit oberflächlicher Erwartung anderer zu tun, es musste vielmehr von Herzen kommen und mit Verstand unterfüttert sein. Die Folgen eigenen Fehlverhaltens durfte man niemals anderen anlasten, sondern musste sie selbst auslöffeln – aber, und das ist jetzt sehr wichtig: konstruktiv und ohne weitere Blessuren, die eine Strafe mit sich gebracht hätte. Mein Vater war ein wunderbarer Tröster in unruhigen Seelenzeiten und auch, wenn ich etwas verbockt hatte. Er fand die richtigen, beruhigenden Worte, und mit diplomatischem Geschick half er aus dem Schlamassel. Ich lernte, was Verantwortung und Rücksicht bedeutet, aber auch, dass niemand ohne Fehler ist – und dann vielleicht mitunter Gottes Hilfe benötigt. Letzteres hätte mein Vater allerdings nie so gesagt, das wäre ihm schon zu frömmlerisch vorgekommen. Das eigene Tun stand bei ihm immer im Vordergrund, stets gewissenhaft hinterfragt.

„Das kannst du jetzt nicht machen“ ist für mich so eine Art geflügeltes Wort von ihm, wenn ich irgendwo auf kindliche Rache sann, vielleicht mit dem Fuß aufstampfte und irgendwas so Impulsives wie Blödes ankündigte. Er brachte mich dann auf den Erdboden zurück, der bei ihm Fairness und Gewissenhaftigkeit bedeutete. Er war ja kein Arzt, aber der ärztliche Grundsatz primum nihil nocere war durchaus auch sein Lebensmotto.

Allerdings liebte er auch den ganz schnöden Erdboden: Er war ein leidenschaftlicher Gärtner. Nein, jetzt nicht mit Fachsimpelei und Angeberei, sondern er liebte es einfach, in der Natur zu sein, Pflanzen wachsen zu sehen und vielleicht von ihnen zu ernten. Anfangs hatten wir einen Garten eher zum Anschauen, mit einer Kräuter- und Beerenecke, und da benutzte mein Vater auch noch Kunstdünger (für einen Rasen wie aus dem Bilderbuch…) und chemische Mittel. Als er zum Gemüse-Gärtner wurde, schwenkte er um aufs Ökologische, nahm mitunter einen anthroposophischen Aussaat-Kalender praktisch zur Kenntnis – grinsend meinte er, es scheine doch, als wäre was dran. Ja, er probierte; er missionierte aber nie. Mit Offenheit (und ganz viel Humor) sah er sich Unkonventionelles an, interessiert und neugierig und lernend, doch eine Weltanschauung durfte daraus bitte nicht werden. Er dachte nicht exklusiv, sondern versuchte immer, Synthesen zu schaffen, Neues als Bereicherung zu sehen, ohne sich ihm auf irgendeine Weise unterzuordnen. Ja, vereinnahmen ließ er sich nicht. Stringenz und niemals Selbstaufgabe, das waren die beiden Waagschalen, die er austarierte. Das gab er mir mit.

Als er gut siebzig war, wurde er – zu früh, wie man auch in den 90er Jahren schon empfand – plötzlich schwächer. Mit diesem Einschnitt rechneten wir nicht, heute aber sehe ich ihn mit anderen Augen, wenn ich seine Biografie betrachte: Aus dem Krieg, in den er direkt nach seiner erfolgreichen musikalischen Aufnahmeprüfung hineingezwungen worden war, kam er chronisch krank zurück, auch eine misslungene Blinddarm-Operation im Kindesalter machte ihm zeitlebens gesundheitlich zu schaffen.

Er klagte jedoch nie; seine Kraft reichte einfach nicht so lange wie bei anderen Menschen. Die, muss man leider sagen, sein Kränkeln durchaus auch mit Häme betrachteten: Wer so gesund lebte wie mein Vater, müsse doch wirken wie das blühende Leben, meinten sie.

Ich hingegen sehe es als ein Wunder, dass er überhaupt bis zur Pensionierung (und sogar darüber hinaus) arbeitete, wobei ich mich auch nur an ein einziges Mal erinnere, dass er ein paar Tage krankheitsbedingt fehlte.

Die sieben Jahre in Krieg und Kriegsgefangenschaft waren nicht nur verlorene Jahre, sondern hinterließen in Seele und Körper tiefe Schneisen. Jüngere konnten da kaum mitreden, taten es aber dennoch.

Den oftmals melancholischen Unterton meiner Gedichte hätte mein Vater gut verstanden. Angesichts mancher Texte hätte er wohl gefragt: „Warum so finster?“, um vermutlich, nach einigen Jahren, hier und da zu konstatieren: „Du hattest recht, hast es richtig gesehen.“

Unprätentiös und leise und der Fairness geschuldet. Nein, er drängelte sich nie vor.

Nur sein Klavierspiel war mitunter laut. Oder sein Orchester an der Schule. Aber auch das war immer abhängig vom Musikstück und vom Komponisten.

Wie heißt nochmal so ein Glückskeks-Spruch? In der Ruhe liegt die Kraft. Ja, das passt.

 


© Marlies Blauth, 2022

 


























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