Mittwoch, 5. Januar 2022

[Glosse] Höhenangst

 






Für Menschen mit Höhenangst ist die halbe Welt ein Abgrund – mit gläsernen Stegen darüber.

Jede Haushaltsleiter ist ein gefährliches Ungeheuer, nötigt sie doch zum Glühbirnenwechseln in unsympathischen Höhen. Man trifft die Freundin, die im Hochhaus wohnt, lieber unten im Café, und vor jeder Hotelbuchung schaut man sich die Architektur der Gebäudeteile intensiv im Internet an. Sicher ist sicher.

Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als ich mein Urvertrauen in die Verwalter der Höhen und Tiefen unwiederbringlich verloren hatte. Ich war drei Jahre und mit meinen Eltern zusammen in eine angeberische moderne Villa eingeladen, die unbedingt besichtigt werden sollte. Ihr Herzstück war ein Treppenhaus über drei Etagen, licht und luftig, mit offenen Treppenstufen. Eine solche Skeletthaftigkeit war mir bislang unbekannt, und der bodenlose Abwärtsblick nach allen Seiten führte bei mir zu einer schweißtreibenden Schwindelattacke, der ich mich nur dadurch entziehen konnte, auf allen Vieren hochzukrabbeln und auf dem Podex, wie man damals sagte, wieder hinunterzurutschen. Meiner Mutter war meine Pein nicht klar, sie tadelte mich, ich könne doch – als groooßes Kind – nun wirklich laufen. Aber gerade dieses normale Laufen war mir in diesem Fall unmöglich, meine Beine und Füße schienen aus Pudding, und mein Hirn bot mir immer wieder neue Varianten des Hinunterstürzens. Dieser Wirrwarr aus Unfähigkeit und Drama sollte mich für den Rest meines Lebens begleiten.

Ein Bodensatz naiven Vertrauens existierte damals allerdings doch noch. Den damals verordneten Mittagsschlaf hasste ich aus verschiedenen Gründen. Ich konnte nie schlafen, wollte es auch nicht, da ich meinte, in diesen kostbaren Stunden Wesentliches zu verpassen. Sicher galt es als gesund, diesen Pseudo-Mittagsschlaf bei geöffnetem – so richtig geöffnetem – Fenster zu vollziehen. Unten auf der Straße lief Kläuschen, ein Junge aus der Nachbarschaft, und ich fühlte mich ganz erwachsen, als ich so weit die Fensterbank erkletterte, dass ich, aus dem ersten Stock heraus, mit ihm intellektuelle Gespräche führen konnte (Kläuschen war etwa zehn, ich vier). Meine Mutter sah offenbar ihren potentiell halsbrecherischen Fehler ein und beendete das Thema Mittagsschlaf für immer.

Passiert ist also glücklicherweise nichts, und auch sonst kann ich mich an nichts Traumatisches erinnern, das meine Höhenangst verursacht haben könnte. Sie war einfach da, wie meine allererste Panik in jenem Treppenhaus: Ich scheue wie ein Pferd und nichts geht mehr – wortwörtlich.

Die Menschen in meiner Umgebung meinten daraufhin, mich vehement therapieren zu müssen – denn, so sagten sie, ich kenne vieles doch noch gar nicht und solle es wenigstens einmal ausprobieren. Auf diese Weise wurde ich in Riesenräder gesteckt, auf Fernsehtürme gescheucht und in Gebirgsgondeln gezwungen. Was mir jeweils den ganzen Tag verdarb: In (eigentlich) schönster Schneelandschaft (eigentlich) lecker im Bergrestaurant zu speisen, wurde stundenlang überschattet vom Gedanken, wieder zurückgondeln zu müssen. Ebensowenig konnte ich mich mit dem sich sanft drehenden Turmcafé anfreunden; die wunderbare Weitsicht bis zu meinem Elternhaus war mir völlig egal, die Vorstellung, dass das verdammte Café auf einem scheinbar dünnen Betonspargel ruhte, durch den ich via Aufzug wieder gen Erdboden rutschen sollte, war allgegenwärtig und drückte mächtig auf meinen sonst sehr guten Appetit.

Dem therapeutischen Riesenrad entstieg ich mit angstblau gefärbtem Gesicht, und ich erinnere mich an die skurrile Mischung aus Übelkeit und Genugtuung, als sich nämlich jene Personen, die mich kurz zuvor noch großtönend hinbiegen und hinkriegen wollten, echte Sorgen um mich machten.

Aber auch halbwegs freiwillige Versuche waren allermeistens von einem dramatischen Abbruch gekrönt. Irgendwo auf halber Strecke hing ich dann fest und kam weder voran noch zurück, wegen des besagten Puddings in den Extremitäten. Wie eine Beißhemmung, nur woanders.

Der Schweiß lief aus allen Poren, vorzugsweise an den Händen, so dass es noch dazu ordentlich rutschig wurde beim Festhalten. Eines Tages, mitten im Sportunterricht, steckte ich ganz oben unter der Hallendecke auf einem Klettergerüst, das ich wieselflink erklommen hatte, bis mich die Angst vor der eigenen Courage erreicht hatte. Der Blick von oben auf die anderen war schlichtweg scheußlich, und die perspektivisch klein geschrumpfte Sportlehrerin hatte nichts Besseres zu tun, als mich mit ihrem Wird’s-bald?! noch mehr aus der Fassung zu bringen. Eigentlich sollte man über dieses Kletterdings oben auf die andere Seite wechseln und dort wieder heruntersteigen. Eine im Prinzip leichte Übung, aber nicht auf Baumwipfelhöhe! In Kindheit und Jugend der schrecklichen Sportsfrau wurden Höhenängstliche garantiert Memmen genannt und unter erwünschtem Johlen bösartig vorgeführt.

Unten (irgendwie) angekommen, spürte ich jedesmal unendliche Erleichterung, der Erdboden war mein Freund. Aufatmen, Nerven an Großhirn: Schweißproduktion ein-stel-len und wieder Mensch sein. Nie-wieder-da-hoch!

Mit der Zeit vermied ich alles, was mich in Höhenstress hätte versetzen können. Für das Untenbleiben zahlte ich allerdings einen Preis: Geduld. So hatte ich mir auferlegt, in einem langweiligen Alpendorf, das sich durch eine Hauptstraße mit Schneematsch und ein paar Andenkenläden auszeichnete, die Zeit totzuschlagen, während zwei Freundinnen mit dem Sessellift in freundlichere Gegenden zuckelten. Auch um und in den Kölner Dom bin ich zahlreiche Male geschlufft, während die Familie oder Freunde wieder einmal den Turmaufstieg unternahmen. Immerhin hatte ich in diesem Fall Gesellschaft von den unzähligen Dachdämonen aus Stein, die als Wasserspeier die Kirche beschützen.

Während meiner Jahrzehnte langen, einigermaßen erfolgreichen Vermeidungstaktik gab es natürlich hin und wieder einen Ausreißer. Ich erinnere mich an den Atelierbesuch in einem ausrangierten Industriegebäude, in dessen Riesenbauch sich eine Treppe ohne Zwischenböden himmelhoch schlängelte. Einzige Alternative war ein verrosteter, stockender Aufzug.

Seitdem erfrage ich immer höflich die Details der Ateliers. Natürlich lag das nächste, das ich besuchte, ganz harmlos auf Gartenebene in einem ganz normalen Wohnhaus, mein verbales Höhenangst-Trara war also völlig unnötig.

Ein Schockerlebnis hatte ich wiederum am Godesberger Bahnhof: Ich war gerade dem Zug entstiegen und sah mich auf dem Bahnsteig geradezu gefangen. Die Unterführung wurde renoviert (wofür ich vollstes Verständnis hatte), als Behelf diente ein teuflisches Metallgerippe über die Gleise, das natürlich genügend Sicherheitsabstand zu den Oberleitungen benötigte. Da stand ich nun mit meinem Koffer und hörte die anderen Menschen über das Metallgerüst rappeln, das auch noch – kling-klong – wackelte wie ein Hundeschwanz. Ich wuchtete meinen Koffer an den zahllosen Löchern und Spalten vorbei und versuchte, mit irgendeinem Mantra gegen meine Verzweiflung anzukommen. Zitternd und mit Blutdruck 200 erreichte ich mein bescheidenes Ziel, den Erdboden auf der anderen Seite. Mein obligatorisches Nie wieder ließ den Blutdruck wieder sinken; den Rückweg würde ich anders machen, egal wie viele zeitraubende Schnörkel der Bus zum Bonner Hauptbahnhof fahren würde.

Meine Eltern schienen absolut frei zu sein von akrophobischen Attacken. Besonders von meiner Mutter kam ärgerlich oft der Einwand: „Und guck doch mal, wie schön!“ – während ich immerzu mit der Frage befasst war, wie ich umstandslos die missliche Lage wieder verlassen konnte. Auch meine Kinder klettern wie die Eichhörnchen.

In der Familie liegt „das“ also nicht – oder doch?

Ausgerechnet über meine sportlich-wendige Tante wurde berichtet, dass sie sich geweigert haben soll, in die Wuppertaler Schwebebahn zu steigen; wegen Höhenangst. Waaaas? Mir wurde fast warm ums Herz, eine Leidensgenossin zu haben.

Während meines Studiums in Wuppertal war die Schwebebahn ein praktisches und schnelles Verkehrsmittel für mich. Ich verließ mich ganz rational auf die Bilanz, dass sie in ihren damals 80 Lebensjahren ohne größere Zwischenfälle funktioniert hat. Leider ist das nicht so geblieben, und seit ich erfuhr, dass Fahrgäste auf freier Strecke von der Feuerwehr befreit werden mussten, gehe ich heutzutage lieber zu Fuß oder nehme den lahmen Bus.

Es hat sich jedenfalls glücklich gefügt, dass ich nun seit langem in einem niedrigen Haus am Niederrhein wohne.

 

 

 

 

Text und Bild © Marlies Blauth






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