Donnerstag, 30. Juni 2022

#Herbarium Tagebuch | 10

 



Eine Kirche voller Schneckenformen: überbordender Jugendstil

Die Lutherkirche in Wiesbaden














Viele Male bin ich mit dem Bus, aus Schlangenbad kommend, an dieser Kirche vorbeigefahren – und ahnte nicht, dass sie einmal für eins meiner Projekte geradezu ein Highlight sein würde. Von außen wirkt sie fast unscheinbar; jedenfalls verspricht sie nichts, so stellt man sich ihr Inneres eher als protestantische Farblosigkeit vor. Dass das ohnehin ein Vorurteil ist, habe ich inzwischen gelernt; aber mit dieser Farbenfülle rechnet man einfach nicht.









Schon wenn man den Vorraum betritt, kommt man ins Staunen: Die Taufkapelle glänzt golden (hier bereits ungezählte Schnecken), an den Wänden gemalte organische Jugendstilformen, die an endloses Wurzelwerk denken lassen. Und im Kirchraum selbst ist, sozusagen, immer Pfingsten: Dynamik, Inspiration, Freude! Sicher für manche zu viel; aber für meine Zwecke eine wunderbare Reichhaltigkeit. Auch hier herrschen die schneckigen, spiraligen Formen vor, sie bilden zu Tausenden den Hintergrund für andere Formen, oft sind sie auch kontrastreich im Vordergrund. Otto Linnemann war hier der Maler; ein Freund von Joachim Ringelnatz, heißt es. Mit dieser Vorstellung wird mir – neben all den Farben – warm ums Herz, denn ich bin ja ausgesprochener Ringelnatz-Fan.








Was hat es mit den Pfeilen auf sich, die sich im Gewölbe auch fast spiralig winden? Die Schnecke ist Symbol für Ewigkeit. Ob das hier symbolisch gemeint ist? Man weiß es nicht; die Grenzen zwischen Dekoration und Inhalten sind fließend, und vielleicht spielt ja auch die intuitive Kreativität eine Rolle – pfingstlich eben.

 





Leider habe ich diesmal nicht die Gelegenheit, mich in eher abseitigen Bereichen aufzuhalten, um vielleicht andere Blickwinkel zu entdecken oder näher am Gewölbe fotografieren zu können; ich habe Glück, überhaupt in die Kirche gekommen zu sein. Laut Gemeinde-Homepage wäre sie eigentlich offen, doch die einladend geöffnete Tür führt nur in die Säle irgendwo oben (im Turm?), wo Veranstaltungen stattfinden.

Ich wusste: Man sollte eigentlich vorher anfragen, weil die Öffnungszeiten der Kirche nicht immer gewährleistet sind. Meine telefonischen Versuche liefen aber alle ins Leere: Urlaubszeit.








Eigentlich platze ich nicht in Veranstaltungen hinein, aber meine weite Anfahrt sollte mich entschuldigen, sage ich mir. Und wirklich, eine von den Anwesenden hat einen Kirchenschlüssel – Glück gehabt! Ich mag aber nicht fragen, ob ich auf die Emporen darf und in weitere Ecken und Winkel, die den Besuchern normalerweise versperrt sind, sondern bin einfach froh, mit ganz üblicher Perspektive in die Farbenfülle tauchen zu können. Der „orientalische“ Eindruck ist hier besonders stark. Wollte der Jugendstil das eigentlich? Ich habe keine Ahnung, in meinem Studium wurde der Jugendstil innerhalb der Kunstgeschichte eher kurz abgehandelt, weil er so oft in angewandte Kunst und Kunstgewerbe driftete. Okay, das ist hier auch so. Und ich kann auch die Kritik verstehen, man wird irgendwann übersatt beim Schauen. Aber bei mir überwiegen Staunen und Begeisterung. Irgendwie sind die Zeiten gerade so, dass wir das Ornament brauchen, liebevoll ausformulierte Details, die nicht verwaschen und ungenau sind; organische Wiederholungen, die uns die Prinzipien von Natur und Ökologie nahebringen (gewollt? zufällig passend?), indem sie die Schöpfung feiern.


 



Geh aus, mein Herz, und suche Freud
in dieser lieben Sommerzeit
an deines Gottes Gaben;
Schau an der schönen Gärten Zier,
und siehe, wie sie mir und dir
sich ausgeschmücket haben.

Die Bäume stehen voller Laub,
das Erdreich decket seinen Staub
mit einem grünen Kleide;
Narzissus und die Tulipan,
die ziehen sich viel schöner an
als Salomonis Seide.

(Strophe 1 + 2 des bekannten Liedes von Paul Gerhardt, 16o7 – 1676)

 






P. S. Nach den so überwältigenden Eindrücken des "Innenlebens" der Kirche habe ich tatsächlich vergessen, sie von außen zu fotografieren. Nur den "Sternen-Eingang" hatte ich bei der Ankunft fotografisch festgehalten.



Marlies Blauth | 23. Juni 2022

Text und Fotos © Marlies Blauth

 








1 Kommentar:

ilseluise ~ Clownerie und Theologie hat gesagt…

Danke für Deine wundervolle Kirchenführung.
Die werde ich mir mal anschauen ...
Mich erinnern die Schneckenformen sehr an Spiralen ...
die Pfeile führen ins Zentrum, in die Mitte ...
Danke nochmals