Donnerstag, 8. März 2018

Der Bus kommt nicht [Kurzprosa]












Der Bus kommt nicht


An Werktagen mag G., ein Industriestädtchen am Rande Nordrhein-Westfalens, seine Bedeutung haben – sonntagmorgens ist es einfach ein menschenleeres Nest. Aber es hat einen Bahnhof.
Ich bin, wenn man so will, aus der verkehrten Richtung gekommen, von den Großstädten her in die Provinz. Will weiter nach F., einem winzigen, gleichwohl hübschen Ort, da gelegen, wo die Welt fast zu Ende ist. Dorthin fährt – immerhin – stündlich ein Bus. Und so stehe ich auf einem schmalen Bussteig. Eine Sitzgelegenheit gibt es nicht, sie fehlt mir aber eigentlich auch nicht, weil der Bus in Kürze eintreffen wird. Ich schaue umher und frage mich, warum die Gestaltung von Bahnhofsvorplätzen immer gut gemeint ist, aber nie geglückt; warum sie stets praktisch wirkt, aber – rätselhafterweise – umso schneller schäbig wird: So viele Menschenspuren auf abwaschbaren Materialien. Warum tut Glattes und Betoniertes der Menschenseele so weh? Und warum lockt es, so widersinnig, die Einsamen an?

Ich grüble und schaue: Aus welcher Richtung kommt der Bus? Da sehe ich, wie ein Mann meinen Wartesteig ansteuert – ein Riese, auffallend nachlässig gekleidet, wankt diagonal über die Straße, direkt auf mich zu. Den brauche ich jetzt wirklich nicht; ich stelle mir vor, wie er mich gleich anrülpst und mir irgendwas Dummes sagt. Verwuscheltes Haar, Stoppelbart übers ganze Gesicht, ausgebeulte Leinenjacke und schief hängende Krawatte lassen auf eine lange Nacht, wenn nicht auf einen bedenklichen Zustand der Verwahrlosung schließen. Die zerlesene Boulevardzeitung, die er in der Hand hält, hat fast etwas Beruhigendes, weil sie darauf hinweist, dass der Typ wenigstens lesen kann.
Wirklich komisch sind seine teuer aussehenden Schuhe. Ich rätsele.
Wäre die Billigzeitung nicht, könnte es auch ein Schriftsteller sein, denke ich – und schäme mich für so viel Vorurteil. Merkwürdigerweise spüre ich mit der Zeit eine gutmütige Ausstrahlung. Zehn Minuten warten wir nebeneinander, bis er loswettert (und ich kurz erschrecke): „Der Scheiß-Bus kommt nicht!“ Gleich morgen werde er sein Monatsticket kündigen und wieder mit dem Auto fahren. –  Aha. Ganz verwahrlost also nicht.
Ich reagiere optimistisch hinsichtlich des Busses und merke, dass ich mal wieder das geduldige Lämmchen bin, das die öffentlichen Verkehrsmittel auch in aussichtslosen Fällen blöd verteidigt. „Glauben Sie das wirklich?“ fragt er belustigt. „Wir werden hier jetzt eine Stunde lang warten, na, ein Viertel haben wir ja nun schon hinter uns.“ Er schaut mich mit jener Freundlichkeit an, die ich aus irgendwelchen Gründen ja schon vermutet hatte. Er verrät mir, dass er in F. eine Ferienwohnung hat, um sie als Ruheort zu nutzen. In der Großstadt könne er nicht arbeiten. Ich lächle, da „mein Obdachloser“ plötzlich zwei Wohnungen hat, und schaue interessiert. Ob ich wohl noch herausbekomme, um was für eine Arbeit es sich handelt? Vielleicht um eine künstlerische?
Um uns die Zeit zu vertreiben, schenke ich ihm einen meiner Kunstkataloge, die ich in der Tasche habe. Ach, so ein Bild habe er doch schon in F. gesehen, sagt er. Ja, bestätige ich, das ist von mir, daher fahre ich ja jetzt auch nach F. zur Vernissage. „Und komme zu spät.“ „Füllen Sie ein Formular des Verkehrsbetriebs aus, vielleicht bekommen Sie ja eine Erstattung. Sie können auch meinen Namen nennen.“ Den er mir dann sagt.
Und nun erzählt er und erzählt. Von seinen Jahren in Afrika, von seiner Frau und seinem Kind, die beide nicht mehr leben, von seiner Jugend in den 68er Protestjahren. Und dass er gerade an seinem zweiten Roman schreibe, der erste erscheine bald beim großen Verlag X & Y. Außerdem habe er hin und wieder Lyrik veröffentlicht. Ich grinse – unsichtbar. Und nehme mir vor, bei der nächsten Gelegenheit zu googeln, wen ich da aufgefischt habe. Er fabuliert weiter, ich höre ihm gern zu. Vielleicht, denke ich, kann ich ihm ja mal ein Gedicht zum Drübergucken schicken.

Irgendwann ist die Stunde um, der nächste Bus kommt sehr pünktlich, und wir erfahren, dass „unser“ Bus sich verfahren hat. Ich lache. Wir plaudern im Bus weiter und laufen anschließend zusammen bis vor die Galerie, in der die Ausstellung stattfindet. Die Besucherschar reicht bis zur Tür, ich bekomme gerade noch die letzten Takte der Begrüßungsrede mit. Freundlicher Abschied, etwas neckisches Winken, dann ist mein seltsamer Begleiter nicht mehr zu sehen.


Als ich zu Hause bin, gebe ich bei Google seinen Namen ein. Na, im Internet scheint er nicht so doll unterwegs zu sein. Schaue bei X & Y, weil ich den Buchtitel finden will, der ja bald erscheint – auf Anhieb nichts; weitersuchen. Ich schreibe den Namen auf verschiedene Arten; nicht einmal der allerkleinste Hinweis ist zu finden. 




© Marlies Blauth













5 Kommentare:

Michael Hermann hat gesagt…

Lustige Geschichte, liebe Marlies.
Erzählte ich Dir schon mal eines meiner Erlebnisse im Kölner Bahnhof?
Alles Liebe,
Michael

Marlies Blauth hat gesagt…

Hallo Michael, nein, steht die Geschichte auf Deinem Blog?

Mit herzlichen Grüßen, Marlies

Michael Hermann hat gesagt…

Oh, gute Idee!
Vielleicht schreibe ich sie während der Kur.
Mit liebsten Grüßen,
Michael

Michael Hermann hat gesagt…

Hab's heute geschrieben und auf mein Blog geladen.
Mit lieben Grüßen,
Michael

Marlies Blauth hat gesagt…

Ich bin gespannt!