Der Bus kommt nicht
An Werktagen mag
G., ein Industriestädtchen am Rande Nordrhein-Westfalens, seine Bedeutung haben
– sonntagmorgens ist es einfach ein menschenleeres Nest. Aber es hat einen
Bahnhof.
Ich bin, wenn man
so will, aus der verkehrten Richtung gekommen, von den Großstädten her in die
Provinz. Will weiter nach F., einem winzigen, gleichwohl hübschen Ort, da
gelegen, wo die Welt fast zu Ende ist. Dorthin fährt – immerhin – stündlich ein
Bus. Und so stehe ich auf einem schmalen Bussteig. Eine Sitzgelegenheit gibt es
nicht, sie fehlt mir aber eigentlich auch nicht, weil der Bus in Kürze
eintreffen wird. Ich schaue umher und frage mich, warum die Gestaltung von
Bahnhofsvorplätzen immer gut gemeint ist, aber nie geglückt; warum sie stets
praktisch wirkt, aber – rätselhafterweise – umso schneller schäbig wird: So
viele Menschenspuren auf abwaschbaren Materialien. Warum tut Glattes und
Betoniertes der Menschenseele so weh? Und warum lockt es, so widersinnig, die
Einsamen an?
Ich grüble und
schaue: Aus welcher Richtung kommt der Bus? Da sehe ich, wie ein Mann meinen
Wartesteig ansteuert – ein Riese, auffallend nachlässig gekleidet, wankt
diagonal über die Straße, direkt auf mich zu. Den brauche ich jetzt wirklich
nicht; ich stelle mir vor, wie er mich gleich anrülpst und mir irgendwas Dummes
sagt. Verwuscheltes Haar, Stoppelbart übers ganze Gesicht, ausgebeulte
Leinenjacke und schief hängende Krawatte lassen auf eine lange Nacht, wenn
nicht auf einen bedenklichen Zustand der Verwahrlosung schließen. Die zerlesene
Boulevardzeitung, die er in der Hand hält, hat fast etwas Beruhigendes, weil sie
darauf hinweist, dass der Typ wenigstens lesen kann.
Wirklich komisch
sind seine teuer aussehenden Schuhe. Ich rätsele.
Wäre die
Billigzeitung nicht, könnte es auch ein Schriftsteller sein, denke ich – und
schäme mich für so viel Vorurteil. Merkwürdigerweise spüre ich mit der Zeit
eine gutmütige Ausstrahlung. Zehn Minuten warten wir nebeneinander, bis er
loswettert (und ich kurz erschrecke): „Der Scheiß-Bus kommt nicht!“ Gleich morgen
werde er sein Monatsticket kündigen und wieder mit dem Auto fahren. – Aha. Ganz verwahrlost also nicht.
Ich reagiere
optimistisch hinsichtlich des Busses und merke, dass ich mal wieder das
geduldige Lämmchen bin, das die öffentlichen Verkehrsmittel auch in
aussichtslosen Fällen blöd verteidigt. „Glauben Sie das wirklich?“ fragt er
belustigt. „Wir werden hier jetzt eine Stunde lang warten, na, ein Viertel
haben wir ja nun schon hinter uns.“ Er schaut mich mit jener Freundlichkeit an,
die ich aus irgendwelchen Gründen ja schon vermutet hatte. Er verrät mir, dass
er in F. eine Ferienwohnung hat, um sie als Ruheort zu nutzen. In der Großstadt
könne er nicht arbeiten. Ich lächle, da „mein Obdachloser“ plötzlich zwei
Wohnungen hat, und schaue interessiert. Ob ich wohl noch herausbekomme, um was
für eine Arbeit es sich handelt? Vielleicht um eine künstlerische?
Um uns die Zeit zu
vertreiben, schenke ich ihm einen meiner Kunstkataloge, die ich in der Tasche
habe. Ach, so ein Bild habe er doch schon in F. gesehen, sagt er. Ja, bestätige
ich, das ist von mir, daher fahre ich ja jetzt auch nach F. zur Vernissage.
„Und komme zu spät.“ „Füllen Sie ein Formular des Verkehrsbetriebs aus,
vielleicht bekommen Sie ja eine Erstattung. Sie können auch meinen Namen
nennen.“ Den er mir dann sagt.
Und nun erzählt er und
erzählt. Von seinen Jahren in Afrika, von seiner Frau und seinem Kind, die
beide nicht mehr leben, von seiner Jugend in den 68er Protestjahren. Und dass
er gerade an seinem zweiten Roman schreibe, der erste erscheine bald beim
großen Verlag X & Y. Außerdem habe er hin und wieder Lyrik veröffentlicht. Ich
grinse – unsichtbar. Und nehme mir vor, bei der nächsten Gelegenheit zu googeln,
wen ich da aufgefischt habe. Er fabuliert weiter, ich höre ihm gern zu. Vielleicht,
denke ich, kann ich ihm ja mal ein Gedicht zum Drübergucken schicken.
Irgendwann ist die
Stunde um, der nächste Bus kommt sehr pünktlich, und wir erfahren, dass „unser“
Bus sich verfahren hat. Ich lache. Wir plaudern im Bus weiter und laufen anschließend
zusammen bis vor die Galerie, in der die Ausstellung stattfindet. Die
Besucherschar reicht bis zur Tür, ich bekomme gerade noch die letzten Takte der
Begrüßungsrede mit. Freundlicher Abschied, etwas neckisches Winken, dann ist
mein seltsamer Begleiter nicht mehr zu sehen.
Als ich zu Hause
bin, gebe ich bei Google seinen Namen ein. Na, im Internet scheint er nicht so
doll unterwegs zu sein. Schaue bei X & Y, weil ich den Buchtitel finden
will, der ja bald erscheint – auf Anhieb nichts; weitersuchen. Ich schreibe den
Namen auf verschiedene Arten; nicht einmal der allerkleinste Hinweis ist zu
finden.
© Marlies Blauth
5 Kommentare:
Lustige Geschichte, liebe Marlies.
Erzählte ich Dir schon mal eines meiner Erlebnisse im Kölner Bahnhof?
Alles Liebe,
Michael
Hallo Michael, nein, steht die Geschichte auf Deinem Blog?
Mit herzlichen Grüßen, Marlies
Oh, gute Idee!
Vielleicht schreibe ich sie während der Kur.
Mit liebsten Grüßen,
Michael
Hab's heute geschrieben und auf mein Blog geladen.
Mit lieben Grüßen,
Michael
Ich bin gespannt!
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