Dunkel, hell, dunkel immer
wieder*
Vorbei – verjährt –
Doch nimmer vergessen.
Ich reise.
Alles, was lange währt,
Ist leise.
(aus: Joachim Ringelnatz, Ich
habe dich so lieb)
Mein Lieblingsgedicht, das mich nun über fünfzig Jahre begleitet. Damals, in der Schule, war es für mich der Einstieg in die Lyrik; ich erinnere mich lebhaft daran, wie mir gleichzeitig zum Lachen und zum Heulen war, als unser Deutschlehrer es vorlas. Er sprach, „typisch Ruhrgebiet“, eine schnörkellose, manchmal sehr direkte Sprache und achtete auch bei uns darauf, dass wir jegliches Pathos strikt vermieden. Umso mehr beeindruckte mich die Sensibilität, mit der er das Gedicht las, so fein, so klar.
Seitdem hat mich die Lyrik in ihren zarten Fängen. Es sollten aber noch gut dreißig Jahre vergehen, bis ich mein Vorhaben, selbst Gedichte zu schreiben, tatsächlich einlöste.
Ziemlich zufällig – aber was für ein schöner Zufall – entdecke ich nun den Gedichtband von Gerd Puls: Über der Stadt, Gedichte aus dem Ruhrgebiet (Edition Virgines, Düsseldorf 2018). Genau das, was ich gerade brauche in meiner häuslichen Klausur: Eine literarische Reise. Eine Reise durch Zeit und Raum. Alles, was lange währt, ist leise.
Gerd Puls ist deutlich älter als ich, eine halbe Generation, aber das, was er „von früher“ lyrisch beschreibt, kenne ich genauso – genau so. Und die Sprache, die er spricht, lässt mich gleich eintauchen in die Vergangenheit:
[…]
hier an der Ruhr
[…] fing alles an
ein bisschen Eisen,
Wasserkraft
die schwere Hämmer trieb
schwarze Steine, die glühten
[…]
Stadt an Stadt aufgereiht
an grauen Schnüren
[…]
Da kommt er auf, dieser Geruch, das Gemisch aus Arbeit und Fortschritt und schweflig-heißer Hölle. Ich höre auch die Geräusche dazu, Rauschen, Pusten, Klingeln.
Und immer wieder diese Ambivalenz! Das Ruhrgebiet ist immer zweierlei, Armut und Reichtum, Hoffnung und Gefahr, dunkle Hässlichkeit und verschwiegene Schönheit; ich kenne solche Gärten gut:
[…]
der Duft vom Rosenbeet
der schwarze Wald
hinterm Haus
das Läuten der Zechenbahn
[…]
oder der Garten als „kleines
Glück“
Stücksken Garten
handtuchschmal
unter rußenden Schloten
[…]
Die schwere Arbeit des Vaters, das Sterben der Oma („dass es ihr schlecht ging / kam ihr niemals / über die Lippen“), die Gastarbeiter aus verschiedenen Epochen, die „Invaliden“, die „keuchend, hustend mit ihren Hunden / um das Zechenwäldchen schlurften“, der Schulfreund, der illegalerweise etwas vom Haushaltsgeld an der Bude verprasste und später das große Muffensausen kriegte, der Schlachttag, der Waschtag, das Fußballspielen, „Pöhlen“ („zwei Kreidestriche an der Wand, das Tor gegenüber / markiert mit Werners Wolljacke zusammengeknüllt“) –
und hier, wie ein Holzschnitt von Frans Masereel:
Kräne am Kanal gegen Abend
Hauch von Hamburger Hafen
Sydney, New York
letzte Sonnenflecken auf dem
Lastkahndeck
[…]
Mich freuen Gedichte wie das
folgende besonders, da sie so gut zu meinen Bildern passen:
AUSSCHNITT EINER LANDSCHAFT
Backsteingiebel geduckt
unter Wilhelminischen
Fassaden
damals fing alles an
Abteufen der Schächte Schlot
an Schlot
[…]
und was bleibt von jeder
Ewigkeit
sind Gräser zwischen den
Steinen
und der Wind, der
darüberstreicht.
Auf den Seiten 74ff steht das Gedicht BARBARA, KONSERVIERT; aus meiner Sicht der stärkste Text des Buches! Vielleicht gehe ich später in einem Extra-Beitrag noch darauf ein. Mit Barbara, der Schutzheiligen der Bergleute, hatte ich mich vor einigen Jahren auch schon beschäftigt (hier), gerade deshalb bewundere ich Gerd Puls für seine berührenden Bilder, die weit über meine eher klischeehaften hinausweisen.
Das Ewige und
das Vergängliche und das Ewige …
Ja, nicht nur Barbara verwittert und bröckelt. Das Ruhrgebiet ist zum „Ruhrpott-Disneyland“ geworden, in dem „jede Zeche ein Museum“ wurde, „jede Eisenhütte ein Saurierpark“. Erinnert mich an mein eigenes Gedicht „man könnte sagen“ (in: zarte takte … S. 8, hier übersetzt in gemäßigtes Ruhrdeutsch). Es ist ja auch wirklich ein Dilemma: Die typischen Jahre des Ruhrgebiets waren hart und düster, schmutzig und gefährlich, aber einen musealen Pseudo-Ruhrpott wollen wir denn auch nicht, keine „(DE)MONTAGE“ zu einer lieblichen Landschaft, in der es nur noch um eine herzlose Idealversorgung geht. So ähnlich habe ich es ja auch beschrieben: […] inzwischen liegt auf weitem Rasen / eine sauber knisternde Gegenwart […]. Bei Gerd Puls mündet genau dieser Gedanke in Schottergärten aus „chinesisch-deutschem Granit“, die Anschaffung von Laubpustern und das Fällen der letzten Bäume. Folglich gibt es den „Stichlingsbach“ auch nicht mehr, solche Fische muss man sich heute im Buch ansehen. Wobei das nicht ganz stimmt: die aktuellen Renaturierungsmaßnahmen von Regionen und Gewässern sind nicht zu unterschätzen. Mein Emscher-Gedicht erzählt da denn auch weniger Romantisches von früher: […] Stumpf lag das Wasser in / seinem künstlichen Streckbett / und stank vor Krankheit – […]. Abwasserplörre ohne jedes Leben. Heute bin ich erstaunt, dass die Emscher tatsächlich wieder zu einem normalen, fröhlich plätschernden Bach geworden, gemacht worden ist.
Ich weiß aber natürlich, was der Autor meint: die Menschen. Ihre Haltung, ihre
Haltung zueinander in einer unwirtlichen Umgebung. Es gab die gegenwärtig oft
zitierte Solidarität, ganz lebhaft und wirklich: unter Tage war man aufeinander
angewiesen und vergaß das über Tage nicht. Die aufgeräumten Landschaften heute
haben großenteils an Charakter verloren und beeinflussen wohl auch die Menschen, die in ihnen
leben. Deshalb resümiert Gerd Puls am Schluss seines Buches:
[…]
hier lebe ich
hier ist es bunt
HIER LEBEN WIR
– eine Herausforderung, eine Verpflichtung, ein Erbe.
Marlies Blauth | 3. Januar 2021
Text und Bilder © Marlies Blauth
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