Tell me what's making you sad, Li?
„Deine Menschen sehen alle so traurig aus“, sagte mir kürzlich jemand.
Fürwahr, Freude und Fröhlichkeit verflüchtigen sich immer mehr, denn fast zwei Jahre sind eine lange Zeit, und man hätte doch angenommen, dass sich wenigstens jetzt Ziele und Perspektiven auftun. Das Jahr 2020 scheint im Rückblick allerdings das freundlichere gewesen zu sein (und das zu konstatieren ist schon heftig), und man hat den Eindruck, die Zielgerade verläuft parallel zum Ziel. Keine Berührungspunkte, egal ob man abwartet oder weiterrennt.
Die Prognose, dass nichts
mehr so sein wird wie 2019, ist so logisch wie schrecklich. Die Zeit ist
weitergerückt, selbstverständlich, man kann nicht im Dezember 2019 andocken und
genau dort weitermachen. Aber die Veränderungen sind dermaßen gravierend: Ich
sehe Menschen, die „anders“ geworden sind, was weiß ich, vor Angst, aus
Hochmut, ich sehe sie rapide altern, kraft- und antriebslos werden. Ich denke
ja immer mal an die Geschichte von Rip van Winkle, der in einen Zauberschlaf
fiel und erst nach zwanzig Jahren wieder aufwacht – in einer entsprechend
veränderten Situation, in die er sich erst wieder einfinden muss. Wir schlafen
indessen nicht, haben aber vielleicht doch auch ein Narkotikum erhalten, das
uns teil- und zeitweise wegdämmern lässt, um dann wieder aufzuschrecken und zu
merken, wie dünn die eigene Haut geworden ist.
Lange hat Corona keinen
Einzug gehalten in meine nächtlichen Träume, zeitweise träumte ich auch gar
nicht; aber jetzt: Ich fahre in einem Zug (was ich so gerne mache,
früher mit einem Kaffee und Schreibzeug, der Großteil meiner Gedichte ist so
entstanden) und merke, dass ich mein Zertifikat nicht dabei habe, verloren,
vergessen, wie auch immer. Mein Panik ist grenzenlos, denn wie soll ich nun
nach Hause kommen? – Ich träume auch, dass ich in einer abgerumpelten Halle,
die nun ein Impfzentrum ist, in einer Schlange stehe; ein Arzt gibt mir die
Spritze statt in den Arm in den Nacken. Das kann man lustig finden; ich wache
allerdings mit Herzklopfen auf. Mut und Vertrauen haben mich längst auch in der
Alltagswirklichkeit verlassen, und Trost gibt es von nirgendwo. Ich finde kein
Wohlwollen, keine Menschenfreundlichkeit; bestenfalls die Aufforderung zu
funktionieren.
Viele Märchen-Motive kommen mir in den Sinn. Da gibt es immer wieder Aufgaben zu erfüllen, um aus einer Misere herauszukommen; oft sind es sonderbare Aufgaben, die zum Teil nur kreativ, zum Teil nicht im Alleingang zu lösen sind – manchmal kommen die zum Ziel, die zuvor unscheinbare Tiere gerettet haben und nun auf deren Hilfe zählen können. Ich denke an Hänsel und Gretel, an Aschenputtel, an Schneewittchen. Alle sind sie traurige Menschen, wenn sie ihre Notlage erkennen und diese ihnen aussichtslos erscheint. Aber auch die Geschichte mit dem „Pissputt“ kommt mir immer wieder in den Sinn, als nämlich die Maßlosigkeit plötzlich alles – wenn auch nicht aus eigener Kraft – Erworbene in sich zusammenfallen lässt. Auf der anderen Seite kommen Menschen mit einer freundlichen Grundhaltung zu ihrem Ziel, auch wenn sie arm sind und machtlos scheinen.
Wir kennen den – traditionell guten – Ausgang jener Märchen: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Die Protagonisten wissen davon aber noch nichts und fühlen sich bisweilen klein und hoffnungslos. So ähnlich geht es auch meinen dargestellten Menschen. Zumal sie ja immer auch Abstand voneinander halten auf diese Weise wortwörtlich als Außenseiter leben sollen.
Und, wie wir wissen, können
es im Märchen gern einmal sieben Jahre werden. Manchmal sogar hundert, aber das wollen wir doch wirklich nicht hoffen.
Marlies Blauth | 12. Dezember
2021
Text und Bilder © Marlies Blauth
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