Donnerstag, 29. Februar 2024

An meine Mutter

 




An meine Mutter – zum Geburtstag am 1. März

 

 




 

Manchmal stelle ich mir vor, wir könnten uns noch einmal treffen. Vielleicht in diesem kleinen Café an der Ecke, das es schon ganz lange nicht mehr gibt? Egal, für uns würde es noch einmal öffnen.

Damals kam ich so oft mit tauber Zahnarztbacke dorthin. Du hast mir immer einen Eiskaffee spendiert, der meinen lahmgelegten Kaumuskeln so gut tat, und nuschelnd erzählte ich Dir meine Erlebnisse. Und Du hast mich zum Lachen gebracht.

Ob Du heute etwas darüber berichten dürftest, wie es ist, auf einem fernen Stern zu wohnen? 

Schaust Du vielleicht manchmal hierhin? Wenn ich Dir die Geschichte meines Scheiterns erzählen wollte: Kennst Du sie vielleicht schon in- und auswendig, weißt Du vielleicht mehr über uns „hier unten“ als wir selbst?


Ich stelle mir vor, wie Du im Café auf mich wartest. Mein Zug hatte mal wieder Verspätung, ich bin nicht ganz pünktlich. Bist ganz schön moppelig geworden in den dreizehn Jahren, höre ich Dich sagen. Und gleich darauf: ‘Tschuldige, ich weiß doch, dass du immer die Reste aufisst und all das, was nicht so gut ankommt – hab’s dir ja selbst beigebracht, dass man Essen nicht verkommen lassen darf. Irgendwann legt sich das eben auf die Rippen.

Ich weiß. Im Gegensatz zu mir warst Du immer zierlich und drahtig. Regelmäßiger Morgensport, später am Tag auch noch irgendwas. Da waren wir sehr unterschiedlich, für diese Disziplin konnte ich Dich nur bewundern. Gleichwohl frage ich mich, wann eigentlich mein Bewegungsdrang aufgehört hat; Sport war zeitweise sogar mein Lieblingsfach in der Schule gewesen.

 

Irgendwann würde ich aus den letzten Jahren erzählen. Auch, wenn Du alles schon kennst, hörst Du mir zu. Dem Vater, das weiß ich, würde es das Herz zerreißen. Dir auch – aber dann würdest Du „die Ärmel aufkrempeln“ und nach Lösungen suchen. Der pure Herzschmerz ist nicht konstruktiv, man muss etwas tun.

Aber erst wandelst Du meine ätzenden Tränen in salzlose Lachtränen um. Du bringst einen Spruch, den so ähnlich auch Heinz Erhardt hätte sagen können, so was wie Na, da bist du ja heftig vom falschen Ort in die falsche Zeit gestolpert! Ich kann nicht anders, als die komischen Momente herauszupicken, erzähle Dir von dieser stümperhaften Telefonseelsorge-Tante, die viel zu viel über sich selbst quatschte. Sich als perfekte Mutter und Oma präsentierte und mir obendrein einen Tadel rüberschickte, weil ich den Wunsch eines meiner Kinder respektiert habe. Ich hätte mich nicht danach richten dürfen, hatte sie gemeint, in so einer Situation macht „man“ doch a) und b)!

Wir sitzen da und lachen. Wie eine Sch-Situation auf das Problem zusammenschrumpfen kann, sich möglichst höflich, unaggressiv und ganzganz schnell aus so einem Telefonat zu verabschieden. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Ich weiß die Quelle dieses Sprichwortes nicht, kenne es nur von Dir, Du hast es gern zitiert.

Während wir uns den verschiedenen Etagen unseres Eiskaffees widmen, sagst Du Dein Du glaubst doch an den lieben Gott. Dann vertrau‘ ihm auch. Es kommen bessere Zeiten!

Und da muss ich wieder heulen, wenn ich das so schreibe. Ich habe oft das Gegenteil gehört: Ich sei schuld, und überhaupt, alles schlimm und ohne Perspektive.

Dein Optimismus war immer wie eine heilende Medizin. Dabei hast Du nie etwas beschönigt. Keine rosa Brille. Soll ich mal mit XY reden? Auch wenn du Fehler gemacht hast: DAS haste nicht verdient. Vieles lässt sich erklären und entschärfen, wenn man spricht.

Ja, so habe ich es von Dir gelernt; und es ist ja gerade ein wesentlicher Teil meines Scheiterns, dass ich genau das nicht hingekriegt habe, dass ich eben nicht zur richtigen Zeit das Richtige habe sagen können (nur wollen, aber das zählt ja nicht).

Du hattest eine verdammt lange Glückssträhne, sagst Du, hast gemeint, es müsse so weitergehen. Ja, das war geradezu verführerisch. Eine Zeitlang bin ich vielleicht auf das Sprichwort hereingefallen, das bei uns eigentlich nie galt: Jeder ist seines Glückes Schmied. Klar, auf dem Sofa zu warten, was das Schicksal so heranträgt, gilt nicht. Andererseits kann man schmieden und schmieden und es kommt nur dummes Zeug heraus, jedenfalls kein Glück. Doch solange das Glück tagtäglich vor der Tür steht, könnte man meinen, es selbst veranlasst zu haben.
Wolltest Du mir diesen Irrtum aufzeigen – als Du für immer gingst? Damals geschah das, wovor Du immer „gewarnt“ hattest: Kinners, trennt euch nicht im Streit, es könnte ja das letzte Mal sein, dass ihr euch seht.
Boah, das war hart – bis tief ins Herz zu spüren, dass gut gemeint nicht immer gut gemacht ist. Du warst krank, ich wollte, dass Du zum Arzt gehst, konnte Dich natürlich in keine Zwangsjacke stecken und versuchte immer wieder, Dir Angebote zu machen, mitzukommen, Dich freundlich zu überreden. Du hast, nicht nur mit mir, geschimpft, wir sollten Dich alle in Ruhe (sterben) lassen. Das St-Wort hast Du nicht gesagt, aber gemeint. Und warst laut und entschieden: Wir sollten Dir nicht reinreden und aufhören zu nerven.

Bis heute weiß ich nicht, was ich hätte tun können oder sollen. Die Tante von der Telefonseelsorge hätte vermutlich gesagt: Warum sind Sie nicht hingefahren und haben den Rettungswagen bestellt?

Wir ordern eine Eisschokolade. Zuviel Kaffee dürfen wir nicht trinken, denn wir haben heftige Schlafstörungen – wie so viele Frauen in der Familie. Von so viel „Vererbung“ habe ich sonst noch nie gehört, und dass fast ausschließlich die Frauen betroffen sind, ist doch komisch. Inzwischen nehme ich Melatonin, etwas unsicher, weil man so Widersprüchliches hört; aber immerhin schaffe ich es, damit einen Es-geht-so-Schlaf hinzukriegen. Die aktuellen Widrigkeiten ließen mich überhaupt nicht mehr zur Ruhe kommen, ich wurde zum grauen Nachtschatten auch tagsüber, das konnte so nicht weitergehen. Ohne Melatonin wär’s gesünder, ohne Schlaf völlig ungesund: die berühmte Bredouille.

Ob Du früher Contergan genommen hast? Darüber hast Du mir nie etwas erzählt. Nur, dass der Arzt es für mich empfohlen hatte und ich es auch bekam. Ich war ein halbes Jahr oder so. Heutzutage ist man entsetzt, obgleich man bei aktuellen Erfindungen auch wieder schnell dabei ist zu sagen: ach, harmlos. Hatte man nicht früher, ganz früher, auch Arsenhaltiges und andere Giftigkeiten gegeben? Und es ist noch nicht sehr lange her, nach Contergan, dass man jede Menge Asbest, dieses „unvergängliche“ Material, verbaute.

Noch immer schönen wir Ware mit Worten, wie auf dem mittelalterlichen Markt: Wenn sich etwas als Wundermittel anpreisen lässt, umso besser.

Du, als „ehrliche Haut“, hast nie beschönigt. Hatte ein Ding eine winzige Macke oder den allerkleinsten Webfehler, war es Dir peinlich, es auch nur weiterzuverschenken. Ein Verkauf wäre schon gar nicht in Frage gekommen. Ich musste es mir selbst beibringen, das Verkaufen – es klappte leidlich, und reich bin ich nie geworden. Andere nehmen das Zehnfache für ihre Bilder (oder versuchen es jedenfalls); Du hättest gesagt: Nun bleib‘ mal auf dem Teppich.

Manchmal fand ich das spießig und wenig aufregend, Deine Grundehrlichkeit ging mir auf den Wecker, und ich wollte heraus aus den angestaubten Zwängen. Jungsein, Freisein, Coolsein – so in etwa heißt es heute. Es gab eine Zeit, da konnte ich Deine kleinkarierte Welt mit ihrer muffigen Redlichkeit nicht ausstehen.

Und das muss wohl so sein; das habe ich inzwischen gelernt. Aufmüpfiger Aufstand ist wichtig, um dann irgendwann wieder geerdet zu werden. Es gibt keinen Alltag ohne Biederes und Langweiliges (wie anders würde man Kloputzen und Bettbeziehen einordnen?), und wenn er das nicht – auch – hat, besitzt man entweder „Geld wie Heu“ (Deine Formulierung) oder es läuft was schief.  

Es gibt auch Umstände, die einen spießiger machen als man es je sein wollte; ich glaube, diese Erkenntnis eint uns. Das richtige Maß zu finden zwischen der eigenen „Dickköpfigkeit“ und dem, was die Umgebung – zum Teil recht konventionsbehaftet – verlangt, ist alles andere als einfach. Spätestens als ich selbst erwachsen war, habe ich erkannt, dass hinter Deiner „spießigen“ Fassade ein Füllhorn von originellen Ideen wohnte. Aufgefallen war es mir schon hin und wieder, wenn ich – manchmal etwas schwergängig, da von eigentlich unwichtigen Einzelheiten gar zu oft abgelenkt – Schul-Dinge nicht kapierte und Du mir alles so locker wie fantasievoll erklären und sortieren konntest. Textaufgaben ohne Ende, und ich brauchte immer so lange dafür. Stell dir vor, der Herr P. verkauft dir dies und das und verrechnet sich … und dann lachten wir über den frechen Herrn P., der einen Laden in der Nähe betrieb und mich regelmäßig einschüchterte, Dich aber zu kleinen Retourkutschen, die gerade noch als höflich-selbstbewusst durchgingen, animierte. Da fand ich Dich immer toll, und ich fragte mich, wie stilsicher man den Ton treffen und trotzdem „austeilen“ kann. Das wollte ich auch können.

Aber es war doch nicht alles schlecht, sagst Du und lächelst spöttisch wegen dieser oft bemühten Floskel, du hattest doch auch Erfolge? Was habe ich mich mit dir gefreut … Ich nicke eifrig, immer wieder froh, dass Du nicht zwischen kleinen und großen Erfolgen unterscheidest, nicht zwischen bedeutenden und belanglosen Künstlerinnen und Künstlern, nicht zwischen „richtigen“ Schriftstellern und Hobbyautoren. Ich berichte Dir fröhlich, wie ich – eichhörnchengleich – meine Honorare einsammle, hier eine Walnuss, da eine Hasel, alles Stück für Stück auf dem Bankkonto vergrabe und für die Rentenzeit aufsummiere. Und wie bunt die Aufträge sind – erst kürzlich habe ich kunsthistorische und meditative Texte eingesprochen für einen Audioguide. Was hätte sich Vater gefreut – dem habe ich ab dem Grundschulalter ständig Löcher in den Bauch gefragt, die Kunstgeschichte ließ mich nicht los.

Du sagst nicht, ich sei doch gar keine professionelle Sprecherin. Du „bewunderst“ mich, indem Du Dich wunderst, was für Zufallsnetzwerke immer wieder neue Arbeitsbereiche für mich ausspucken. „Bedeutend“ muss das alles nicht sein. Das machste richtig, sagst Du – diesen schönen heimatlichen Satz! Keine Leistungsschau, sondern „Einfachnurdasein“. Hätte ich auf dem Markt Eier verkauft, wäre es genauso gut.

Ich habe Dir meine vier Bücher mitgebracht. Manche Gedichte findest Du doof, das sagst Du geradeheraus (wie immer); andere zeigen Dir Seiten von mir auf, die Du nicht kanntest. Du entdeckst meine „schlaflos“-Gedichte, bemerkst dazu Wohl dem, der das nicht kennt – und amüsierst Dich über meine Dachtiere, die kratzen, oder über die Gedankenmäuschen, die man nicht loswird. Ja! Genauso ist es! Was für eine Quälerei – Du lachst, denn damit hast Du ja nichts mehr zu tun. Respekt flößt Dir meine „Visite“ ein: Von wegen … Dystopie, sagst Du bitter. Ja, Du hattest mich zu diesem Text inspiriert.

Wir sprechen noch über Hochsensibilität. Ich erzähle Dir, dass ich vor kurzem einen Test gemacht habe – selbst erreichte ich eine riesighohe Punktzahl, aber was ich noch interessanter fand: Du hättest vermutlich die Höchstzahl erreicht. Das war neu für mich. In jeder Frage tauchtest Du auf, auch bei denen, die ich für mich mit „trifft nicht zu“ beantwortete. Offenbar bist Du nicht nur Synästhetin, sondern hochsensibel(st) dazu. Früher machte man darum allerdings kein Gedöns; von „stell dich nicht so an“ bis „nu‘ mach dir mal nicht ins Hemd“ gab es alles. Ich konnte schmecken, dass ein Brot am nächsten Tag schimmlig sein würde; Du meintest, ich hätte ’ne kleine Macke bei so was. Und so raunzten wir uns gegenseitig oft bös‘ an, zwei Sensibelchen, die sich so ähnlich waren und gleichzeitig deutlich voneinander abgrenzen mussten.

Nun nimmst Du Deine Handtasche und gehst. Ich zahle diesmal, denn Sternengeld wird hier nicht akzeptiert. Komm gut durch – sagst Du, wie so oft, es wird schon wieder. Und schau, wenigstens bist du nicht einsam. Ich habe dir Menschen geschickt, die dir sagen „Kannst Tag und Nacht anrufen“. Und es war nicht etwa Zufall, dass A. Deinen Weg kreuzte. Die sagt dir ganz viel, so wie ich es dir auch sagen würde. Und im übrigen ist es schön auf dem fernen Stern. Aber nimm dir noch etwas Zeit.


Ich sage danke – und hoffe so sehr, dass ich meinen Alptraum endlich bald verlassen kann. Alptraumzeiten hatte ich auch, fügst Du noch an, das kannst Du mir glauben. Aber der liebe Gott hat es dann doch immer zum Guten gewendet. – Und dann gehst Du; genau dorthin zurück.

























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