Das Haus
Wieder laufe ich durch seine Räume, durch nachtschwarze
Stille, und taste und ahne. An der Stelle, wo meine Mutter gelegen hat, tot, zwei
Tage lang, denke ich mir ein Kreuzzeichen; ich denke es nur, denn das Haus soll
ja verkauft werden, da erzählt man solche Details lieber nicht.
Mensch, es ist schon verkauft, sage ich mir. Hast doch die
Kindheit längst hinausgetragen, in Container geworfen oder zu alten Kleinwagen
geschleppt, deren Heckklappen offen standen für Kisten voller Bücher, groß
gewachsene Topfpflanzen oder abgenutztes Essgeschirr. Alles wurde zusammengestopft
und geschichtet, ein Handschlag, danke schön, tschüs.
Bei der Übergabe musste es leer sein, das Haus.
Damals, als es gebaut werden sollte, ging ich so gern
mit zum Architekten. Während die Eltern sich Wichtiges ausrechnen ließen, Änderungen
wollten, Erklärungen murmelten, blickte ich voller Freude auf die Pläne an den
Wänden. Ich liebte die vielen Linien, Lebenslinien, die sich in Geräusche und
Räume verwandelten. Überall draußen wuchsen neue Gebäude, während die stumpfen Holzbaracken
langsam verschwanden. Es ging aufwärts, man sah es, man hörte es – vertraute
Musik aus Klopfen, Sägen und Mischmaschinen.
Als wir einzogen, war der Himmel pastellfarben wie das
Haus.
Jeder Tag roch anders – nach Regengrün, Stahlwerk,
Kuchenbacken und Staub.
Ich liebte das Leben.
Das Haus füllte sich über die Jahre. Dinge wurden
hineingetragen, schöne, feine und schwere. Es kamen Menschen, alte Bekannte und
Unbekannte. Gedanken wurden gesagt, manche davon in Schränken verstaut und
nicht mehr hervorgeholt. Einige Menschen erhellten das Haus, der Atem anderer
legte sich auf die Wände und färbte sie traurig. Manchmal musste aufgeräumt
werden, umgebaut, renoviert.
Die Blutbuche vor meinem Fenster wuchs und wuchs und
wurde ein Riese, und wenn der Herbst kam, hustete sie gegen die Wände meines
Zimmers. Ich konnte den Himmel nicht mehr sehen, wünschte mir Weite – und ging.
Meine Eltern blieben.
War ich zu Besuch da, kam mir das Haus manchmal vor wie
ein unscheinbares Heiligtum. Wir öffneten Kisten und Kästen, in denen Namen und
Worte aufbewahrt wurden, wir aßen Brot, tranken Wein dazu. Manchmal lachten wir
in den Himmel, hinein in den Abenddunst, der rosenholzfarben war. Alles brannte
sich ein in mein getauschtes Leben, ich wäre so gern geblieben. Der nächste Tag
schon zog mich weg.
Erst starb der Vater und mit ihm sein Garten. Die bunte
Fülle unter dem Sommerblau möchte ich jeden Tag malen. Manchmal gelingt es mir.
Als die Mutter alt wurde, alterte auch das Haus. Es
atmete schwer und dunkel, bis es kein Leben mehr in sich hatte. Die Dinge waren
nur noch Dinge, man sah ihre Kerben und Sprünge deutlich. Menschen kamen und
gingen, boten an, in meiner Erinnerung Ordnung zu schaffen. Andere verwirrten
mich, ließen so manches zerschellen und fanden das spaßig.
Als das Haus ein Skelett war, gab ich den Schlüssel weg.
Ich habe in der Nähe zu tun, mache einen kleinen Umweg
und laufe durch meine Straße. Der Himmel ist weiß gestrichen wie das Haus. Sein
neuer Eingang sagt mir freundlich, dass ich nicht willkommener bin als jeder andere.
© Marlies Blauth
4 Kommentare:
sehr eindringlich gut geschrieben!
atemlos gelesen!
liebe grüße
gabriele
Vielen Dank, das freut mich! Marlies
Sehr gut beschrieben,
atmosphärisch.
Herbstlicher Gruß
Geertje Wallasch
Freut mich, danke!
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