Mittwoch, 1. Juli 2020

Gedicht [Visite]












Visite


Dort unten liegt sie:
die weiße Stadt.
Hellgolden fährt dieser Morgen
über die Dächer
makelloser Gedanken.

Wir sagen wenig.
Von der Besucherbrücke
blicken wir in die Zukunft.
Hoffnung? Hier braucht man keine,
erzählt man uns –
sehen Sie doch: Es fehlt an nichts;
in dieser Gemeinde muss man nicht glauben,
weil jeder handelt.
Alles, was stört,
wird sogleich im Keime erstickt
und wird gut:
Wir leben, ohne zu leiden.

Ich denke ein Wort.
Nicht so viel reden,
ermahnt man mich:
Sie wissen ja, es wird aufgezeichnet,
auf pathologische Muster geprüft.
Das müssen wir.

Jeder, der Böses speit,
wird professionell gereinigt.
Wir haben sogar die
Kommunion wieder eingeführt:
Wir impfen sie jedem unter die Haut.
Das ist Gemeinschaft, ist Liebe.
Nach Brot fragen Sie?
Lassen Sie Ihre Portion
von uns errechnen.

Mein Mundschutz ist durchgeschwitzt.
Hier! Ihre Card zurück.
Und ein Mittel gegen den Schmerz.






© Marlies Blauth (Bild und Text)

erschienen in meinem Gedichtband zarte takte …, NordparkVerlag, Wuppertal 2015


























1 Kommentar:

ilseluise ~ Clownerie und Theologie hat gesagt…

Du bist wohl eine "Seherin".
Respekt.
Sympathie.

Danke. Herzlichst, Hiltrud