Montag, 1. November 2021

#Menschen Tagebuch | 6

 






Ora et labora

 

Nein! Ich will nicht mehr in diesem widersprüchlichen Alltag leben.

Inzwischen sagt man mir: „Nicht jeder denkt so logisch wie du!“. Was soll das sein? Vorwurf, Trost, Kritik oder Lob?


„Die tun uns nichts,“ sagt die Freundin, als wir in der Regionalbahn nur noch ein paar freie Plätze im direkten Umfeld einer partyfeiernden Gruppe Jugendlicher finden. Schon wieder! Diesmal schon mittags um zwei, es wird gesungen, gescherzt, die Musik ist laut. Ein kleiner Rollkoffer voll mit Schnapsflaschen fährt mit, mehr als genug, um das Thema Corona für viele Stunden zu ertränken.

Wieder bin ich hin- und hergerissen zwischen Verständnis, Verständnis für die Jugendlichen und ihren Drang nach Leben, zwischen dem Gefühl, dass es Corona hier gerade nicht gibt, und der Angst, dass ich mich vielleicht doch anstecken könnte. Meine Freundin hat diese Angst nicht, sie mag die unmaskierte Lebenslust der Jüngeren.

Inzwischen weiß ich, dass ich mich von denen jedenfalls nicht angesteckt habe. Und überhaupt, wie käme man durch den Alltag, wenn man jede eventuelle Gefahr fürchtet – jedes Zugsignal könnte ja falsch anzeigen, jedes Auto von einem Irren gefahren werden, jeder Pflasterstein locker sein, jedes Geländer morsch.

Ich will das nicht. Ich muss nicht saufen und grölen, um zu spüren, dass ich lebendig bin; aber ich will leben. In den Widersprüchen dieser Tage kann ich das nicht. Menschen – die einen sind zügellos, die anderen mahnen, kontrollieren, drohen (vielleicht ebenso zügellos). Ich selbst bin moderat, ohne moderiert zu werden, gemäßigt, ohne dass man mich mäßigen muss. Diese Eigenschaften möchte ich nicht verlieren. Die Monate der Verwirrung, des Verwirrtwerdens, dauern mir zu lange. So habe ich beschlossen, meine nächsten sieben Wochen – bis auf ein paar wenige Ausnahmen – sozusagen in Klausur zu verbringen: Bete und Arbeite, dem Wahlspruch vieler Mönche und Nonnen entsprechend. Ich habe künstlerisch viel zu tun und möchte, wenn möglich, auch spirituelle Erfahrungen machen.

Heute ist Reformationstag. Martin Luther verwarf später das klösterliche Leben, das er doch selbst eine Zeitlang geführt hatte. Vieles war damals – es war ja noch im Mittelalter – ad absurdum geführt. Aber eine Auszeit von der alltäglichen Zwangsjacke, der Versuch, den Heiligen Geist zu finden und zu spüren, ist vielleicht gar nicht so schlecht.

Ich brauche neue Perspektiven, neue Arten der Wahrnehmung. Um mich herum werden Grenzen gezogen, die ich akzeptieren muss; ich bin aber nicht bereit, mein Denken eingrenzen zu lassen. Auch in einem engen Raum kann man Weite empfinden; der Mensch hat schließlich auch ein Innen, eine Innenwelt, ist nicht bloß Gestalt, die einsortiert wird in ein Außen.

Ich möchte suchen und versuchen.

 

 

 

Marlies Blauth | 31. Oktober 2021

Text und Bilder © Marlies Blauth

 

 


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