Sonntag, 7. August 2022

#Herbarium Tagebuch | 13

 




Protestantisch-prächtige Insel: der „Dom“ von Rheydt

 



„Dahin müssen Sie unbedingt auch noch“, hatte mir der freundliche Kirchenführer in Essen-Werden geraten. Na klar, die Hauptkirche Rheydt habe ich schon lange auf meinem Zettel. Sie hat festgelegte Öffnungszeiten, das ist gut, da muss ich nicht herumtelefonieren.

Rheydt hat, wie viele Städte, offenbar deutlich bessere Zeiten erlebt als aktuell. Viele Läden stehen leer, manchmal sogar eine ganze Zeile. Ebenfalls zahlreich: Billigläden.

Das alte Karstadt-Gebäude schaut, so schade, mit leeren Augen auf den Marktplatz. Der ist allerdings bunt und lebhaft, es ist Wochenmarkt. Immerhin. Ich möchte einen Kaffee draußen trinken und werde unfreundlich belehrt: „Alles reserviert!“ – ist das nun Frust oder ein beinahe-glückliches Resümee, dass zur Marktzeit (endlich?) genügend Gäste zu erwarten sind?

Da lobe ich mir die völlig andere Tonart, als ich – ein paar Schritte weiter – die Kirche betrete: Mit einem Herzlich willkommen begrüßt mich der Mann, der heute Aufsicht führt.








Sofort entdecke ich „alte Bekannte“, womit ich die Art und Weise der Ausmalungen meine, die Formen, die Farbgebung. Kein Wunder, die Zusammenarbeit des Architekten Johannes Otzen mit dem Kirchenmaler Otto Berg ist mir bereits in Wuppertal begegnet, Bergs Malereien darüber hinaus auch in Dortmund-Asseln. An der Schwelle zum Jugendstil ist diese Gestaltung anzusiedeln, so, als habe man doch noch das Ältere, „Bewährte“ vorgezogen – mit ein paar „jugendstiligen“ Details. 1902 wurde die Hauptkirche Rheydt fertiggestellt.





Auffallend anders ist das „Dach“ über der Kanzel, das natürlich auch der besseren Akustik dient: Aus diesem goldenen Gehäuse kommt das Wort Gottes; dieser zentrale Gedanke ist sofort abzulesen. Ich muss an das Rosenwunder der heiligen Elisabeth denken; hier rankt sich eine ganze Rosenhecke ornamental über die Predigenden. Haben sie früher wirklich „blumig“ gepredigt? Jedenfalls wohl deutlich länger als heute.

Auch in dieser Kirche übertünchte man (spät: 1962) die ornamentale Malerei gnadenlos, um dann wohl, siehe Wikipedia, recht schnell festzustellen, dass nun das „Gesamtkunstwerk“ nicht mehr stimmt. Heute wäre es möglich, digitale Animationen zu erstellen vor so einem riesigen falschen Schritt, man wundert sich trotzdem: Gab es keine Entwurfszeichnungen? Kam niemand auf die Idee, eine Fotografie des Raums manuell zu bearbeiten? Die unpersönliche, kalte Ausstrahlung der hellen Wände wäre eigentlich zu erahnen gewesen. 

Also stellte man die ursprüngliche Ausmalung später (2004) wieder her; was für ein Aufwand.





Den Kirchenmann von der Aufsicht überzeugt die rekonstruierte Reichhaltigkeit allerdings nicht so ganz; er erzählt, dass er zugezogen ist und dass es in seiner Heimat „helle Kirchen mit ein paar Figuren“ gegeben habe. Solche Figuren sucht man in der rheinischen Kirche allerdings lange, der reformierte Einfluss ist unübersehbar. So finde ich es kirchenhistorisch durchaus interessant, dass es rechts und links des Altarraums tatsächlich zwei Christusdarstellungen gegeben hat, die man aber einzig nicht erneuerte (siehe Abb. unten, das freie Feld unten).





Ich laufe herum, darf auch auf die Empore (was in solchen Kirchen fast ein Muss ist, denn dort gibt es immer etwas zu entdecken, und man sieht die Details der Deckenbemalung besser). Und immer wieder, gerade auf den riesigen Emporen, wird mir klar: Damals „dachte man groß“, nicht ahnend, dass es in unserer Zeit vielfach Gottesdienste mit zehn oder zwanzig BesucherInnen gibt – und es gibt in solchen Gebäuden viele Hundert, manchmal tausend Plätze.


 









Dieses und jenes Detail noch – ich sehe unter anderem Eichenblätter und -früchte, waren die bestellt oder entstanden sie quasi aus einer Laune heraus, denn einen biblischen Zusammenhang kenne ich nicht? –, dann ist auch dieser Kirchenbesuch zu Ende.











Draußen am Gebäude ist zu sehen, wie steinerne Säulen mit roten Gurten gleichsam angepflockt wurden, weil die Armierungen durchgerostet sind und sich schon Gesteinsstücke gelöst haben. Und ich sehe auch, dass die Kirchturmspitze gänzlich fehlt. Man musste sie, lese ich, ebenfalls wegen Korrosionsschäden abmontieren. Es hat etwas vom angeknacksten Bild „der“ Kirche allgemein … und macht traurig. Aber die prachtvolle Innenwelt bleibt lebendig, wie eine inwendige Insel.

 

 

Marlies Blauth | 30. Juli 2022

Text und Fotos © Marlies Blauth











1 Kommentar:

ilseluise ~ Clownerie und Theologie hat gesagt…

so schön, wie Du immer wieder neue "perlen" unter den kirchen entdeckst ... wären andere zeiten, wäre ich sofort bei dir und würde dich begleiten ... liebe grüße aus norddeutschland, hille